Nardo Teststrecke

40 Jahre Nardo: Vom Teilchenbeschleuniger zum Tempodrom

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Was für Tennis-Fans der heilige Rasen von Wimbledon, ist für PS-Junkies der High-Speed Kurs in Nardo. Vollgas fahren bis der Tank leer ist – das geht nur dort. Doch das Testgelände, das gerade 40 Jahre alt wurde, hat noch viel mehr zu bieten als Temporausch. „Den größten Menschenauflauf hatten wir, als Niki Lauda mit dem sechsrädrigen Ferrari hier war“, erinnert sich Cosimo Baldi. Der bebrillte Mann mit der sonnengegerbten Haut grinst. „Wir konnten sie einfach nicht alle einfangen.“ Wir, das waren im März 1977 seine Kollegen vom Wachschutz und er selbst als Verantwortlicher. „Einfangen“, wollten sie Ferraristi aus allen Teilen des Landes, die irgendwo aufgeschnappt hatten, dass der Formel-1-Star in Nardo den Prototypen eines nie da gewesen Grand-Prix-Boliden testen wollte. Einen mit vier Antriebsrädern hinter dem Fahrer. Von allen Seiten her stürmten die Fans das rund 700 Hektar große Areal.
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Alle testen in Nardo

Heute ist es wesentlich ruhiger auf dem Technical Center Nardo, nicht zuletzt, weil die Zäune geflickt, Sichtblenden erhöht und die fünf Zugänge ins Innere der zwölf Kilometer langen Kreisbahn besser bewacht sind. „Eigentlich ist das Gelände unkontrollierbar“, sagt Edmund Sander, einer von zwei Geschäftsführern des Centers, „aber wir wissen, wo die Schwachstellen sind und was wir machen müssen.“ Diskretion wird groß geschrieben, wenn es um „Erlkönige“, also die Prototypen künftiger Pkw- und SUV-Modelle, geht. „Größere Probleme mit den Paparazzi gibt es aber nicht“, sagt Sander. Vom Bentley Bentayga bis zum Giulia von Alfa Romeo war in diesem Jahr schon alles in Nardo.

Cosimo Baldi, heute Rentner, hat in den 40 Jahren, in denen das Testcenter besteht, schon allerhand skurrile Sicherheitsprobleme gelöst. So wie etwa das mit dem jungen Albaner, der die Hochgeschwindigkeits-Piste für die Autobahn hielt und als Anhalter mitfahren wollte. Baldi stammt aus einer Familie, die in der Landwirtschaft tief in der apulischen Provinz ihr Auskommen suchte. Zunächst wurde der Bauernsohn Polizist, bevor er zu der zunächst vom Fiat-Konzern betriebenen Erprobungsstätte kam. Später stieg er bis zum Track-Manager auf.

Die Geschichte der Kreisbahn und ihrer Nebenanlagen weit draußen am Absatz des italienischen Stiefels, beginnt in den frühen 70er-Jahren mit einer Fehlplanung. Die Atomkraft war noch unschuldig und Italien der Meinung, zur Forcierung der Kernforschung sei ein Teilchenbeschleuniger genau das Richtige. Der Standort war schnell gefunden im dünn besiedelten Apulien, im Nu waren die nötigen Grundstücke erworben oder enteignet. „Dann aber entschied man sich zu einem Referendum“, erinnert sich Francesco Nobile, der zweite Geschäftsführer des Centers, „die Atompläne fanden keine Mehrheit, einen Teilchenbeschleuniger brauchte man nicht mehr“. Was also tun mit einer Anzahl kreisförmig angeordneter Grundstücke, wo zwischen den beiden Rändern rund vier Kilometer und zahlreiche Bauernhöfe liegen?

Der Fiat-Konzern, damals noch mit vielen Automodellen und ordentlich gefüllter Kasse gesegnet, hatte sich nach einigem Hin und Her erbarmt, das Gelände zwischen den Ortschaften Avetrana und Veglie zu übernehmen und einen Automobil-Erprobungsbetrieb aufzubauen. Fiat-Erzeugnisse sollten dort ebenso getestet werden wie Lastwagen und die Pkw anderer Hersteller. Dazu wurden Handling- und Rüttelkurse, Geländepisten und Verschränkungsbahnen angelegt, Werkstätten und Wartungshallen aufgebaut. Ein paar Dutzend feste Arbeitsplätze für Einheimische entstanden, Fahrer und Ingenieure von Autofirmen, die Nardò für eigene Tests mieteten, sorgten in den umliegenden Hotels und Gaststätten für Umsatz.

„In manchen Wochen sind es 600 Menschen, die hier als Gäste auf dem Gelände ihrer Arbeit nachgehen“, beschreibt Edmund Sander die Situation des Jahres 2015. Die Nardo-Betreibergesellschaft, der er vorsteht, ist eine Tochterfirma von Porsche Engineering. Porsche Engineering ist zwar nicht so bekannt wie der Zuffenhausener Sportwagenhersteller, ist aber älter. Bereits 1931 existierte das Konstruktionsbüro von Ferdinand Porsche, das seine Dienste an verschiedene Auftraggeber verkauft.

Zahlreiche Rekorde in Nardo

Viele europäische Hersteller gaben und geben sich in Nardo die Klinke in die Hand. Renault und Peugeot haben dort oft getestet, Fiat und seine Konzernmarken natürlich, Porsche und Mercedes ebenso wie Lkw-Produzenten von MAN bis Scania. Für die wachsende Zahl an elektrifizierten Pkw hat der Betreiber gerade neue Ladestationen installieren lassen. Parallel zum Neuwagen-Quälen im Mezzogiorno entwickelte sich die Jagd nach immer neuen Rekorden, denn die Kreispiste kann etwas bieten, was es anderswo auf der Welt nicht gibt. Am Außenrand ist sie um zwölf Grad zur Mitte geneigt, was erheblichen Einfluss auf die Fahrphysik hat. Ist man dort mit 200 km/h oder mehr unterwegs, braucht es keinen Lenkeinschlag, um der 12,6 Kilometer langen Spur zu folgen. Die lateralen Kräfte werden durch die Schrägneigung aufgehoben, so dass man bis zu 240 km/h sehr entspannt seine Bahnen ziehen kann – theoretisch so lange, bis der Tank wieder aufgefüllt werden muss. Mit dem Ehrgeiz, noch deutlich schneller zu fahren, kamen viele nach Nardo. Entsprechend lang ist die Liste der Rekorde, die auf einer großen Tafel verewigt am Ende zum Gelände stehen. Bestleistungen können eine komplizierte Sache sein, denn natürlich geht es nicht nur um die reinen Stundenkilometer. Die Bestzeit eines Benziners muss anders gewertet werden, als die einen mit Erdgas oder mit Strom angetrieben Fahrzeugs. Erreicht der Proband nur für einen Moment ein Spitzentempo oder kann er es rund um die Uhr halten? So werden die Höchstleistungen sortiert und archiviert. Keine Bestenliste kommt ohne den 500 PS starken Mercedes C 111-IV aus, der am 5. Mai 1979 nicht einmal zwei Minuten für eine fliegende Runde brauchte. Sein Tempo: fast 404 km/h. Mit genau 100 Stundenkilometern weniger, dafür aber vollkommen emissionsfrei, umrundete Oscar de Vita 1994 die Pista Circolare. Er benutzte ein zigarrenförmiges Elektromobil, das unter Mithilfe des Designbüros Bertone entstand. Nachdem Fiat die Lust an dem aufwändigen Unterhalt der Anlage verloren hatte und auch der Erprobungs-Dienstleister Prototipi die nötigen Mittel nicht mehr durch Vermietung erlösen konnte, bekam ein Banken-Konsortium die Verfügungsgewalt über die 700 Hektar Fläche und 70 Kilometer Piste. Mit Porsche Engineering klappte schließlich die Einigung und mit der Übernahme der Liegenschaft Mitte 2012 zog wieder etwas Kontinuität auf dem Gelände ein. Nach dem Konzept der neuen Eigentümer soll es nach wie vor offen für alle Hersteller sein, die dort testen wollen. Die Bedingungen sind günstig, weil ganzjähriges Fahren mit Sommerreifen möglich ist. Noch stecken Edmund Sander und seine inzwischen rund 120 Mitarbeiter in einem umfangreichen Renovierungs- und Sanierungsplan, der einerseits die Wiederherstellung des teils angegriffenen Asphalt- und Betonbelags vorsieht, andererseits die Anpassung der logistischen Einrichtungen und Wartungshallen auf moderne Standards. Ein Schwerpunkt liegt auf dem Ausbau der Sicherheitseinrichtungen. Das ist der Acker, auf dem Matthias Wollenheit schon tiefe Furchen gepflügt hat. Er ist nicht nur ausgebildeter Rettungs-Assistent und hat daheim in Deutschland bei einer Berufsfeuerwehr gedient, sondern hat sich als Werkstudent auch wissenschaftlich mit der Analyse des Gefahrenpotenzials solch einer Erprobungsstätte befasst. Am Ende der mehrmonatigen Recherche stand ein Sicherheitskonzept, das unter anderem zum Bau von drei sehr speziellen Porsche Cayenne führte. „Dass zahlungs- und PS-kräftige Kunden mit Strandlatschen und ohne Helm auf die Runde gehen, können und wollen wir nicht mehr zulassen“, sagt Edmund Sander kategorisch. Die umgebauten Cayenne auf der Basis des Modells GTS werden als Notarzt-, als Erstlösch- und als technisches Hilfsfahrzeug gebraucht. In letzterem befindet sich eine umfangreiche Werkzeug-Ausrüstung aus Metallscheren, Spreizern, Hydraulikzangen und Luftdruckstempeln, die gebraucht werden, um einen Verletzten schnell aus einem zerbeulten Wrack zu holen. Vorn über der Standardkonsole ist ein Tablet-PC montiert, in dem Wollenheit spektakuläre Geheimnisse aufbewahrt. Die Hersteller, die mit ihren Prototypen nach Nardò kommen, geben Konstruktions- und Karosseriedaten preis, damit die Betriebsfeuerwehr bei einer Havarie weiß, wo zum Beispiel die B-Säule gekappt werden kann und wo nicht. „Besonders bei Hybrid- und Elektrofahrzeugen gibt es Bereiche“, sagt Wollenheit, „wo man auf keinem Fall die Schere ansetzen sollte.“ In einer Testphase, berichtet der 34-jährige Feuerwehrmann, hätten er und seine Helfer zu Schulungszwecken einmal Neuwagen für eine halbe Million Euro zerstört. Ebenso wie die Feuerwehr müssen die Erstversorger von Verletzten geschult werden. Erst seit kurzem in Betrieb ist das Medical Center, in dem zwei Rettungsassistenten abwechselnd 24-Stunden-Schichten schieben. Viel los ist in ihrem Job nicht, aber sie wissen auch, dass ihre Langeweile gleichbedeutend ist mit der körperlichen Unversehrtheit aller, die draußen auf dem Track über den Handlingkurs jagen oder Geländewagen über die ausgedörrten Schotterpisten peitschten. Ziel der Rettungsausbildung ist es, innerhalb von drei Minuten an jedem beliebigen Punkt des Geländes zu sein, um die Erstversorgung effizient vornehmen und falls nötig, den Weitertransport in ein nahe gelegenes Krankenhaus zu bewerkstelligen. Wie viele Millionen Testkilometer in 40 Jahren abgespult wurden, weiß niemand zu sagen. Wahrscheinlich ist Nardo der einzige Fleck auf der Erde, wo eine Entfernung mit der kosmischen Einheit „Lichtjahr“ angegeben werden könnte. Der Benzinverbrauch lässt sich schon besser beziffern: Bei vollem Testbetrieb können es schon mal 10.000 Liter am Tag sein. Und obwohl Autohersteller immer mehr Fahrsituationen am Computer simulieren und so tatsächlich gefahrene Testkilometer überflüssig machen können, rechnet in Nardò niemand damit, dass das Testcenter eines Tages nicht mehr gebraucht wird. Im Gegenteil: Vielleicht geht der Straßenbau sogar noch weiter, eine lange Gerade wie im spanischen Almeria fehlt noch. Platz genug gäbe es ja....
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