Vor der bisher größten Herausforderung in ihrer jetzt 130 Jahre währenden Geschichte sehen die Experten der Beratergruppe Oliver Wyman aktuell die Automobilindustrie. Angesichts der schnell voranschreitenden Digitalisierung in allen Lebensbereichen müssen Autobauer den Kern ihres Geschäftsmodells überdenken, verändern und an die neue Welt anpassen. Für deutsche Hersteller seien die Herausforderungen besonders groß, urteilen die Marktbeobachter. Denn künftig wird Premium nicht mehr durch ihr bisheriges Aushängeschild - technische Features - definiert, sondern durch das gesamte Erlebnis der Mobilität.
Lösungswege beschreiben die Experten in ihrem jetzt veröffentlichten Branchenreport "Automotive Manager". "Wie jedes Unternehmen anderer Branchen müssen auch die Autohersteller ihre Rolle in der digitalen Welt finden. Dazu müssen sie eingetretene Pfade verlassen", sagt Matthias Bentenrieder, Partner im Beratungsbereich Automotive bei Oliver Wyman. "Gerade deutsche Autobauer haben starke Marken durch Premium-Modelle entwickelt. Besonders für deutsche Hersteller gilt es, sich neu zu positionieren."Das Szenario könnte herausfordernder kaum sein. Da sind zum einen neue, kapitalstarke Akteure wie Apple und Google, die Mobilität und Auto neu definieren und in den Markt drängen. Zum zweiten versuchen agile, flexible und kreative Start-ups mit innovativen, digitalbasierten Ideen, an der Wertschöpfungskette rund um die individuelle Mobilität teilzuhaben und besetzen manch zukunftsträchtiges Geschäftsfeld. Zum dritten ändert sich rund um den Globus langsam aber zunehmend die Einstellung der Menschen zum Individualverkehr: Nicht mehr der Besitz eines eigenen Autos ist erstrebenswert, vielmehr wird die eigene Mobilität durch verschiedene Komponenten sichergestellt, etwa durch Car-Sharing.
"Die Digitalisierung wird die traditionelle Wertschöpfungskette in der Automobilindustrie ebenso tiefgreifend verändern wie die interne Organisation der Unternehmen und die Qualifikation der Mitarbeiter", sagt Juergen Reiner, Partner und Automobilexperte bei Oliver Wyman. "Neue Aufgabenfelder entstehen, althergebrachte verschwinden für immer. Entscheidend für den Erfolg ist letztlich aber der Kampf um die Kunden. Da müssen sowohl die etablierten Hersteller als auch die Newcomer entscheiden, ob sie sich auf diesen Kampf einlassen oder auf eine andere Taktik setzen.
"Waren es bis vor kurzem nur zwei Akteure - die Hersteller und die Zulieferer -, die an der Wertschöpfungskette der Automobilindustrie teilhatten, wird es künftig fünf Unternehmenstypen mit unterschiedlichen Geschäftsmodellen geben. Sie reichen von Anbietern für Connected-Life-Lösungen, die über die größte Nähe zum Endverbraucher verfügen, bis hin zu reinen Business-Zulieferern. Wenn die etablierten Hersteller in dieser veränderten Industrie-Struktur auch in Zukunft ihre Führungsposition behaupten wollen, müssen sie sich laut der Experten digitalisieren, Partnerschaften mit digitalen Unternehmen eingehen, agiler werden und ihre Kunden besser verstehen.
Der Weg dorthin indes wird holprig sein. Denn es prallen zwei Welten aufeinander: Digitale Unternehmen denken groß, starten aber klein. Sie testen sehr schnell Prototypen, lernen zügig und adaptieren entsprechend ihre Lösungen, um so schnell wie möglich eine so große Reichweite wie möglich zu generieren. Bisher standen die Automobilhersteller für das genaue Gegenteil. Der Lebenszyklus eines Modells beträgt im Schnitt rund sieben Jahre. "Die traditionellen Autobauer werden sich grundlegend wandeln müssen, um in der neuen Welt erfolgreich zu sein", sagt Reiner. "Statt nur Autos zu verkaufen, müssen sie echte Probleme des Alltags lösen". Dazu zählt etwa, dass Menschen schneller ans Ziel kommen, problemlos einen Parkplatz finden und umweltfreundlicher reisen.
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