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Jahrhundertelang lag das natürliche Tempolimit in den Städten bei rund 10 km/h. Dann kam das viel schnellere Auto und richtete ein Blutbad unter unvorsichtigen Passanten und spielenden Kindern an. Die Bevölkerung rebellierte, wurde aber durch einen frühen PR-Trick ruhig gestellt. Seitdem ist die Straße das unbestrittene Reich der Motoren. Begonnen hat das alles in den USA – der Wiege der automobilen Massenproduktion.
Der Siegeszug des Autos startete – wie sollte es anders sein – mit dem Ford T. Als der preiswerte Wagen ab 1913 von den neuen Fließbändern rollte, stieg in den USA jedoch nicht nur die Zahl der Autobesitzer sprunghaft an, sondern auch die der Straßenverkehrstoten. Rund 17.000 bis 18.000 Menschen starben in den 20er-Jahren jährlich durch Autounfälle – drei Viertel davon Fußgänger, jeder zweite davon wiederum ein Kind.
Der hohe Blutzoll traf die Amerikaner vor dem Hintergrund des gerade beendeten Ersten Weltkriegs ins Mark, wie der Historiker Peter D. Norton in seinem 2007er-Aufsatz „Rivalen der Straße“ darstellt. Der Opfer wurde wie gefallenen Soldaten gedacht. Gedenkmärsche für die verlorenen Kinder wurden abgehalten, Mahnmale aufgestellt, Anti-Auto-Vereine gegründet. Zeitungen wie die „New York Times“ oder der „St. Louis Star“ verglichen das Automobil mit dem Gott Moloch, dem die alten Phönizier im Tausch gegen Wohlstand ihre Kinder opferten.
Bald versuchten die ersten Städte, Autos mit Temposchwellen und Hindernissen auszubremsen. Als dann die Industriemetropole Cincinnati 1923 begann, darüber nachzudenken, die Höchstgeschwindigkeit der Fahrzeuge technisch zu begrenzen, schien es kurz so, als würde der aufgehende Stern des Automobils bereits wieder in den Sinkflug übergehen. Denn geschwindigkeits-kastrierte Wagen wären in den weitläufigen USA wohl nur schwer verkäuflich gewesen.
Doch die Autofahrer-Vereine, die Fahrzeugindustrie und der Kfz-Handel wehrten sich dagegen, in die Ecke des rücksichtslosen Killers gestellt zu werden und gründeten die Lobbygruppe Motordom. Dabei ging es den Fahrern nicht nur um die Verbesserung ihres miesen Raser-Images, sondern auch um viel handfestere Fragen. Denn bis in die 30er-Jahre hinein wurden Unfallfahrer des Totschlags angeklagt und gegebenenfalls entsprechend verurteilt.
Schon bald entwickelte einer der führenden Motordom-Köpfe, der PR-Mann E. B. Leffers, einen genialen Plan, der für einen Stimmungsumschwung in der Bevölkerung sorgen sollte. Statt sich mit den Vorwürfen der Fußgänger auseinanderzusetzen, wollte er die Schuldzuweisungen einfach postwendend an den Absender zurückschicken. Frei nach dem Motto, mit dem noch heute die Waffenlobby-Vereinigung NRA für das Recht auf Sturmgewehre unter dem Kopfkissen eintritt: „Nicht Autos töten Menschen. Menschen töten Menschen“.
„Menschen“ allerdings meint dabei nicht automatisch Autofahrer – sondern mindestens eben sosehr die Fußgänger selbst. Genauso spielende Kinder und unvorsichtige Eltern, die ihren Nachwuchs überhaupt erst auf die Straße lassen. Die neue Argumentations-Strategie war aber nur ein Teil des Plans. Die wichtigste Komponente war die Erfindung des Kampfbegriffes „Jaywalking“.
Heute ist Jaywalking ein Wort der Alltagssprache in den USA und meint so viel wie das illegale Überqueren einer Straße. In den 20er-Jahren wurde es zunächst in einer Mischung aus Spott und Beleidigung benutzt. „Walking“ bezog sich dabei auf das Laufen, die Vorsilbe „Jay“ meinte so viel wie unerfahren, war aber auch als abwertende Bezeichnung für die Landbevölkerung zu verstehen. Wer von einem Auto angefahren wurde, war plötzlich nicht mehr Opfer, sondern ein lächerlicher Trottel, zu doof um unverletzt über die Straße zu kommen.
Zahlreiche Plakate und Handzettel, häufig von Pfadfindern verteilt, machten den neuen schillernden Ausdruck populär. Innerhalb weniger Jahre setzte er sich im kollektiven Bewusstsein fest. Und nicht nur dort: Auch in die ersten Gesetze zum Straßenverkehr floss er ein – natürlich nicht zuletzt auf Initiative von Motordom. In vielen Städten drohten Jaywalker seitdem Gerichtsverfahren und empfindliche Strafen. Diese können bis zu 1.000 Dollar betragen.
Wie später noch häufiger war Amerika in dieser Hinsicht Vorbild für Europa. Sah etwa die Wegeordnung für Westpreußen noch die gemeinsame Nutzung der Fahrwege durch Autofahrer, Reiter, Radler und Fußgänger vor, beschränkte die erste reichseinheitliche Verkehrsordnung von 1934 die Straßennutzung auf den motorisierten Verkehr: „Ist eine Straße für einzelne Arten des Verkehrs erkennbar bestimmt (Fußweg, Radfahrweg, Reitweg), so ist dieser Verkehr auf den ihm zugewiesenen Straßenteil beschränkt, der übrige Verkehr hiervon ausgeschlossen.“ Und auch die aktuelle Straßenverkehrsordnung ist eindeutig: „Wer zu Fuß geht, muss die Gehwege benutzen. Auf der Fahrbahn darf nur gegangen werden, wenn die Straße weder einen Gehweg noch einen Seitenstreifen hat.“
Die alte Regel, nach der die Straße für alle Verkehrsteilnehmer da ist, wurde so abgelöst. Das Machtgefüge hatte sich endgültig verschoben, der Kampf um die Straße war entschieden.
geschrieben von auto.de/sp-x veröffentlicht am 05.06.2013 aktualisiert am 05.06.2013
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