Schon der erste Blicke auf das Datenblatt des Bentley Bentayga lädt das Auge zu einem Parforceritt durch eine Welt automobiler Superlative ein: 2,6 Tonnen Leergewicht, Sechsliter-Zwölfzylinder, 447 kW / 608 PS, vier Sekunden für den Sprint aus dem Stand auf Tempo 100 und eine Höchstgeschwindigkeit von 301 km/h. Wohlgemerkt, wir reden dabei nicht über technische Eckwerte eines neuen Supersportlers mit dem Label der exklusiven britischen VW-Tochter, sondern über einen SUV.
Der Interessent muss für ein solches Gebinde mindestens 208.488 Euro auf den Tresen eines freundlichen Bentley-Händlers legen. Das Privileg, ein solches Auto im Alltag erfahren zu dürfen, stellt auch den Tester vor neue Herausforderungen. Wer ein derartiges Fahrzeug nach traditionellen Kriterien, wie Platzangebot, Gepäckraumvolumen, Fahrverhalten, Verbrauch und Umweltfreundlichkeit abtastet, wird den Bentley freilich nie verstehen.
SUV und kein Ende. Die ganze Welt giert nach dieser Fahrzeugspzies, die eine Variabilität zwischen Kombi und Van bietet und mit vierfach angetriebenen Rädern mehr Sicherheit verspricht. In China steuert die Nachfrage nach SUV auf die 50-Prozent-Marke zu. Das bedeutet: Bald kommen im Reich der Mitte jedes Jahr rund zehn Millionen Vertreter dieser Fahrzeugklasse als Neuwagen auf den Markt. In Deutschland sieht die Entwicklung noch nicht ganz so dynamisch aus, doch die Zahlen belegen, warum selbst Luxushersteller wie Bentley der Nachfrage nach SUV nicht widerstehen wollen: Im ersten Halbjahr entschieden sich laut Kraftfahrt-Bundesamt in Flensburg 211 584 Mitbürger für einen SUV, 141 758 für einen klassischen Geländewagen. Damit erreicht die Fahrzeugklasse einen Marktanteil von 20,4 Prozent.
Mit dem Bentayga betrat Bentley Neuland. Die 1919 gegründete britische Marke, die sich mit dem Titel „Hoflieferant des britischen Königshauses“ schmücken darf, setzte zu Beginn seiner Geschichte auf luxuriöse Fahrzeuge, die stets das Maß an Sportlichkeit liefern mussten, das Rolls-Royce seinen Kunden verweigerte. Das sicherte der Marke Exklusivität, aber keine wirklich wirtschaftliche Sicherheit. Bentley war während seiner Sturm- und Drangjahre ein multipler Pleitekandidat und durfte nach der Übernahme durch Rolls-Royce 1931 lediglich die Produkte der noblen Mutter veredeln.
Ausgerechnet mit dem Verkauf für umgerechnet 736 Millionen Euro an VW änderte sich ab 1998 das Blatt grundlegend für Bentley. Mit dem technischen Knowhow des Wolfburger Konzerns entstanden erfolgreiche Produkte wie die Baureihe Continental. Selbst Monumente wie die ultimative Luxuslimousine Mulsanne durften mit VW-Hilfe ihre archaischen Strukturen ins 21. Jahrhundert retten.
Nun also der Bentayga. Auch wenn Bentley drauf steht, werkelt viel VW unter dem Blechgebirge, dem das Kunststück gelingt, trotz 5,14 Metern Länge und 1,74 Meter Höhe nicht aufdringlich oder gar martialisch rüber zu kommen. Die Plattform mit dem Allradantrieb übernimmt den Löwenanteil vom Audi Q7, der Zwölfzylinder in kompakt bauender W-Konfiguration mit sechs Litern Hubraum, entstand weiland für den VW Phaeton ab 2001 und verkörpert seitdem bei den Briten quasi das Standard-Triebwerk bei allen Continental-Derivaten.
Die Gourmetküche lehrt: Wer als Spitzenkoch sein Handwerk mit guten Grundprodukten beherrscht, ist in der Lage auch aus unspektakulären Zutaten Drei-Sterne-Menüs zu zaubern. Ein Kalbsschnitzel, das in der Dorfgaststätte in der Friteuse landet, schafft es so gerade zur Mahlzeit. Bei Johann Lafer dagegen entsteht daraus ein Gaumenschmaus mit Suchtgefährdung.
Der Übergang zum Bentayga verträgt durchaus eine kulinarische Metapher, denn er ist einfach mehr als ein Automobil, ein Fortbewegungsmittel von A nach B, mit viel Platz. Der Bentley verkörpert vielmehr ein hochwertiges Genussmittel, eine Vergenz der Lebensqualität. Die superlativen Leistungsdaten sind ja nett: 447 kW / 608 PS aus sechs Litern Hubraum, die bei maximal 5000 Umdrehungen der Kurbelwelle von leise murmelnd bis selbstbewusst grollend den 2,5-Tonner anschieben wie einen Elefanten auf Speed, aber stets die Contenance eines distinguierten Butlers bewahrt. Oder 900 Newtonmeter bei gerade 1350/min, eine Drehzahl, bei der in früheren Jahren viele Motoren froh waren, wenn sie die im Leerlauf erreichten, ohne abzusaufen. Aber dieses Zahlenwerk interessiert höchsten Buben auf dem Schulhof beim Autoquartett. Die Zielgruppe des Bentley fokussiert sich auf andere Werte.
Auf die kultivierte Salonatmosphäre im Innenraum beispielsweise. Kein anderer Hersteller vermag mit so sicherer Hand bei der Gestaltung so viel hochwertiges Leder, Holz, poliertes Metall und schurwollene Auslegware mit einer Geschmacksicherheit zu kombinieren, die jeden Aufenthalt im Bentayga ohne den geringsten Hauch von Aufdringlichkeit dauerhaften Erinnerungswert verleiht. Alleine dieses Ambiente adelt schon den ersten Weg am Morgen zum nächsten Bäcker zum Ziel. Nach kurzer Gewöhnungsphase mit den opulenten Außenmaßen, rollt der Bentayga beinahe lässig durch den Alltag. Luxus lockt, Luxus läuft. Schon die legendäre Pariser Modeschöpferin Coco Chanell pflegte festzustellen: „Luxus ist nicht das Gegenteil von Billigem, sondern von Ordinärem.“
Der Auftritt fällt dabei so unspektakulär aus, dass der Bentley praktischerweise fast vollkommen aus dem Radar für Sozialneid fällt. Er liefert gerade einmal Stoff für freundliche Fachgespräche an der Tankstelle. Wenn die Fragen nach den Grunddaten beantwortet sind, erntet auch die Antwort nach dem Verbrauch allenfalls ein Schulterzucken: Unter 15 Litern geht nicht allzu viel. Doch sanftes Dahingleiten über die Autobahn in perfekter Körperhaltung auf Sitzen, deren Polster, Verstellmöglichkeiten und Fähigkeiten der individuellen Klimatisierung den Gesetzgeber dazu inspirieren sollten, derartiges Gestühl zum Pflichtstandard in allen Autos zu erheben, ist auch mit weniger als zwölf Litern möglich. Das ist in der allgemeinen Fahrpraxis mit dem Bentayga eine einfache Übung. Denn umgeben vom Klangerlebnis eines Soundsystems von Naim mit 1950 Watt, 19 Kanälen und 18 Lautsprechern, dürfen sich kläffende Sportwagen und Rennsemmeln der GTI-Fraktion auf der linken Spur gerne in andere Stoßstangen verbeißen. Ein Bentayga nimmt sogar dem Dauerstau auf dem Kölner Ring seine Schrecken.
Die meistgestellte Frage im Zusammenhang mit dem britischen Über-SUV ist die nach dem Preis. 208 488 Euro ist wirklich nur eine unverbindliche Grundpreisempfehlung. Extras und Individualisierungen bis zur maßgeschneiderten Picknick-Ausstattung oder einer Borduhr von Breitling mit Tourbillon können den Endpreis locker um 50 Prozent anfetten. „Auch wenn ich alles Geld der Welt hätte, so ein Auto würde ich mir nie kaufen“, lautet dann die häufigste Reaktion auf die Preisangaben. Das ist jedoch unaufrichtig. Jeder muss den Bentayga begehren und kaufen wollen. Denn jeder Meter mit diesem phantastischen, überdimensionierten und nicht einmal sinnvollen Auto liefert mehr Erlebnis, als 100 Runden Nürburgring-Nordschleife in einem Supersportwagen.
P.S.: Natürlich ist der Bentayga auch ein begabter Offroader. Mit Luftfederung, Wankausgleich und jeder denkbaren elektronischen Unterstützung ausgestattet. Doch da er während der wunderbaren gemeinsamen Tage nicht ein einziges Mal dazu verlockte, den Blinker in Richtung eines Offroad-Parcours zu setzen, bleibt es zum Thema „Geländetauglichkeit“ beim unbedingten Glauben an die Herstellerangaben.