Faszination US-Trucks – Regent mit Rechenschieber

Gute Laune geht anders. Zwar fährt Henry Albert jetzt schon seit Stunden durch eine der schönsten Landschaften in Amerika und hat einen Job, um den ihn Millionen Touristen und frustrierte Schreibtischtäter beneiden. Doch der Mann hat heute keine Freude am faszinierenden Tal des Columbia-Rivers, das er seit seinem Aufbruch in Portland, Oregon, unter die Räder nimmt. Und dass er wie ein König der Landstraße zwei Meter über der Interstate I-84 thront und unter ihm ein fast 15 Liter großer Diesel mit 550 PS stampft, lässt ihn heute kalt.

Denn ein kleiner schwarzer Balken im Cockpit hat ihm gehörig die Petersilie verhagelt. Er ist Teil des Bordcomputers von Henrys Freightliner Cascadia und schlägt mal wieder zu weit aus. „Das heißt, ich verbrauche zu viel Sprit“, schimpft der Trucker und lupft den Fuß noch ein bisschen weiter vom Gaspedal, so dass links von ihm schon wieder ein paar Kollegen vorbei ziehen. 8,6 Miles per Gallon hat er als Zielvorgabe eingestellt, aber im Augenblick sind es nicht einmal acht Meilen, die sein Truck mit einer Gallone schafft.

Nicht dass irgendjemand sonst sich am Verbrauch von Henrys blauem Riesen stören würde. Wir sind schließlich in Amerika, wo Benzin und Diesel an der Tankstelle noch immer weniger kosten als Mineralwasser und die meisten Trucker ihren Motor weder bei der Mittagsrast noch zur Nachtruhe abschalten. Man nimmt schließlich über Nacht auch nicht die Batterie aus [foto id=“446723″ size=“small“ position=“left“]dem Herzschrittmacher. Doch Henry Albert hat ein Ziel: Er will der sparsamste Trucker in Amerika werden. Und jede Meile auf diesem verfluchten Highway bringt ihn davon wieder ein Stückchen weiter weg.

„Natürlich ist das Ergebnis nicht schlecht“, sagt Henry, während sich vorsichtig ein Lächeln zurück in sein sympathisches Gesicht schleicht. „Schließlich geht es die meiste Zeit bergauf, wir haben Gegenwind und hinten 40 Tonnen Ladung auf dem 18 Meter langen Trailer“. Und wo er mit umgerechnet fast 30 Litern auf 100 Kilometern manchem Pick-Up oder Geländewagen die Schau stiehlt, verbrauchen die Trucks seiner Kollegen gerne auch mal 40 oder 50 Liter. „Aber seit ich vor 200.000 Meilen diesen Truck übernommen habe, bin ich jetzt schon auf einen Schnitt von 8,6 Meilen pro Gallone gekommen“, sagt er stolz. „Egal, ob der Laster voll oder leer war, ob es bergauf oder bergab geht.“ Und bei besonders Sparfahrten hat sein Bordcomputer auch schon mehr als 11 mpg angezeigt.

Dafür treibt Henry allerdings einen gewaltigen Aufwand

Er hat nicht nur seien Truck aufwändig modifiziert und den Luftwiderstand mit verkleideten Felgen, Schlitzen in den Schmutzfängern und sogar dem Versetzen des Kennzeichens reduziert. Er studiert während der Fahrt auch online alle Spritpreise und kalkuliert seine Reise im Hinterkopf permanent neu. Während die Kollegen beim Tanken zusammenstehen, [foto id=“446724″ size=“small“ position=“right“]einen Kaffee trinken und die jüngsten Sportergebnisse diskutieren, sitzt er deshalb mit seinen Tabellen im Cockpit und hackt auf dem Taschenrechner herum. So wird der King oft he Road zum Regenten mit Rechenschieber.

Und vor allem hat Henry seinen ganz eigenen Fahrstil: So lässt er sich mit stoischer Geduld von den anderen Truckern anhupen, wenn er mal wieder weit unterhalb des Tempolimits fährt, weil alles andere nur Sprit kostet. „Überhol doch!“, ruft er dann genervt den vermeintlichen Rasern hinterher und regelt seinen Tempomaten zum Trotz gleich noch ein bisschen runter. Anders als bei uns liegt in Amerika das Tempolimit je nach Bundestaat zum Teil bei weit über 120 km/h. Und 160 Sachen würde Henry seinem Cascadia locker zutrauen. „Aber schneller als 65, höchstens 70 Meilen die Stunde fahre ich nicht“, sagt er kategorisch „Fünf Meilen mehr Tempo kosten mich pro Woche schließlich bis zu 500 Dollar mehr Sprit“, rechnet er vor.

Seinen eigenen Fahrstil kann sich Henry allerdings nur leisten, weil das Truckern in Amerika mit dem Fernfahren in Europa nicht viel gemein hat: Dass Henry weitgehend Herr seiner Zeit ist und sein Tempo nach der Tank- und nicht nach der Armbanduhr ausrichten kann, verdankt er nicht nur der geschickten Routen- und Auftragsplanung, die er von unterwegs am Telefon organisiert. Im Vergleich zu seinen europäischen Kollegen hat er es auch deutlich leichter im Verkehr. Das Staurisiko geht auf seinen Strecken gen null. „Wenn ich dem Tempomat auf 60 Meilen stelle, dann habe ich nach einer Stunde deshalb auch genau 60 Meilen runter“, sagt er mit viel Mitleid über seine geplagten Kollegen in Europa. Die bei uns mittlerweile schon krampfhafte Suche nach einem freien Stellplatz für Pausen und Übernachtungen kennt er nicht einmal vom Hörensagen. Und seine Lenk- und Ruhezeiten sind fast schon paradiesisch: „Ein Arbeitstag darf maximal 14 Stunden dauern und davon kann [foto id=“446725″ size=“small“ position=“left“]man 11 Stunden am Steuer sitzen“, erzählt Henry. Und statt einer unbestechlichen Elektronik protokolliert das der Trucker auf einem besseren Notizzettel kurzerhand selbst. „Da fällt es leicht, sich den besten und sparsamsten Weg zurechtzulegen“.

Henry geht es dabei weniger um sein Gewissen gegenüber der Umwelt, sondern schlicht ums Geld: Wenn man sein eigener Chef ist und jede Tankfüllung schnell an die 2.000 Dollar kostet, dann sollte man nicht mit dem rechten Fuß, sondern vor allem mit dem Gehirn arbeiten, sagt der Trucker, der jetzt schon seit bald 30 Jahren auf dem Bock sitzt. „Dann bleibt einfach mehr hängen“, rät Henry seinen Kollegen und schreibt darüber regelmäßig in seinem Blog. Wenn man ihm glauben darf, zahlt sich das aus: Wo andere Trucker im Schnitt mit 40.000 bis 60.000 Dollar pro Jahr nach Hause kommen, gehört er mit seinen 100.000 Dollar zu den Spitzenverdienern.

Mit seiner ebenso sympathischen wie pedantischen Art ist Henry unter den US-Truckern bekannt wie ein bunter Hund. Die einen halten ihn für einen Spinner. Für die anderen ist er ein Idol, weil er ihnen in der Praxis, bei Vorträgen und auf einem eigenen Internetblog zeigt, wie sie ihre Geschäfte besser machen und ihr Einkommen erhöhen können. Selbst die Fahrzeughersteller haben Henry entdeckt: „Wir nutzen ihn als Multiplikator, als Markenbotschafter und bisweilen sogar als eine Art Testfahrer“, sagt Mike McHorse aus dem Freightliner-Marketing. Als die amerikanische Mercedes-Tochter jüngst eine PR-Tour mit dem überarbeiten, für nächstes Jahr geplanten Cascadia quer durch die halbe USA gestartet hat, war es deshalb Henry, der im Führungsfahrzeug saß und den Durchschnittsverbrauch bei dieser Fahrt auf 10,57 Miles per Gallon oder knapp 22 Liter auf 100 Kilometer gedrückt hat – für einen 34 Tonnen schweren Sattelzug mit 100 km/h Durchschnittstempo. „Das sind sieben Prozent weniger als beim Vorgänger“, sagt McHorse und Henry zuckt nur mit den Schultern: „Wenn ihr ein bisschen mehr Zeit gebt, komm ich sogar auf deutlich mehr als elf Miles per Gallon. Wetten?“

Freightliner, mit einem Marktanteil von knapp 40 Prozent die Nummer Eins unter den schweren Jungs in Amerika, setzt dabei auch auf das Knowhow der Konzernmutter Daimler. „Wir schauen oft, wie es die Kollegen in Stuttgart machen und lernen viel vom zum Beispiel vom Actros“, sagt McHorse. Aerodynamischer Feinschliff, optimierte Motoren und neue Getriebe seien es deshalb, die den neuen Cascadia jene von Henry herausgefahrenen sieben Prozent sparsamer machen. Und das ist [foto id=“446726″ size=“small“ position=“right“]erst der Anfang: Vorausschauende Getriebe, intelligente Tempomaten und eine Reihe von Assistenzsystemen sollen den Verbrauch künftig noch weiter verbessern.

Natürlich begegnet man auf den riesigen Raststätten, bei Loewes oder Texaco hunderten von Truckern, die dem Bild vom Helden der Highways fast klischeehaft entsprechen. Sie tragen Cowboystiefel und abgewetzte Lederjacken, haben eine schwere Sprache und machen derbe Scherze. Und wenn sie sich Führerhaus und Arbeitsplatz nicht gerade mit der eigenen Frau teilen, damit sie die überhaupt mal zu Gesicht bekommen, stehen ihre Türen schon mal offen für die „Truckstopp-Lizards“, wie die auffällig blonden, auffällig langbeinigen und auffällig tief ausgeschnittenen Damen genannt werden, die im Garden of Eden so verdächtig lange und einsam am Tresen sitzen.

Henry dagegen wirkt mit Schlips und Kragen wie ein Buchhalter, den man vom Schreibtisch hinter das Lenkrad verbannt hat. Von der Highway-Romantik, die in den sehnsüchtigen Vorstellungen von Touristen und Schreibtischtätern blüht, ist der 49jährige so weit entfernt wie die nächste Großstadt von diesem gottverlassenen Nest in Idaho, in der Henry jetzt gerade zur Pause rollt. „Kommt mir nicht mit Romantik. Das ist für mich keine Berufung, sondern ein Beruf“. Und wenn Henry nach fünf Tagen auf Achse übers Wochenende heim nach North Carolina kommt, freut er sich nicht nur auf seine Frau. Sondern auch auf seinen 400 PS starken Chevrolet Silverado Z71. “ Seit ich in meiner Jugend Autorennen gefahren bin, kann ich von Leistung einfach nie genug bekommen“, outet sich der eben noch so sparsame Trucker. Und der Verbrauch? „Wen interessiert das schon, jetzt habe ich schließlich Wochenende.“

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Gast auto.de

Juli 22, 2013 um 3:16 am Uhr

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