Gastkommentar: Verliert Vorreitermarke Mercedes die innovative Führungsrolle?

Fragt man Mercedes-Führungskräfte in diesen Tagen nach der Markenpositionierung, nach einer Vision für die nächsten 15 Jahre, hört man selten Visionäres. Da ist dann von Konsolidierung die Rede, von Effizienz- und Kostenreduktionsprogrammen, von Skaleneffekten und von der Rückbesinnung aufs Kerngeschäft. Visionen? – Fehlanzeige. Die Statements sind wie eine Rückbesinnung auf sich selbst, aber ohne Selbstbewusstsein. „Wir sind orientierungslos zu sehr mit uns selbst beschäftigt“, kritisiert eine Führungskraft der Ebene E2, was im Hierarchie-Ranking nur drei Stufen unter dem Vorstand ist.

„Edzard Reuter hatte die Vision vom integrierten Technologiekonzern, Jürgen Schrempp jene von der Welt AG, Dieter Zetsche hat noch keine erkennen lassen“, geht der Manager aus sich heraus. Ob die Vorgänger-Planspiele richtig oder gut waren, spiele keine Rolle: „Ein Unternehmen braucht Visionen, um die Mitarbeiter auf ein Ziel einzuschwören. Wir haben leider keine.“ Man drehe sich im Zeichen der Wirtschaftskrise im Kreise, habe zwar solide Produkte, „aber wir verkaufen uns unter Wert, sparen an Werbung und Kommunikation und reden nur noch über Kostenreduzierung“. Dies gehe bis ins Detail. So erzählt einer, dass die LED-Leuchten neuer Modelle um ein paar Einheiten verkleinert wurden, weil das auf die Stückzahl über Jahre ein paar Hunderttausend Euro bringe. „Dass dies jetzt schlechter aussieht, darauf wurde keine Rücksicht genommen.“

Da bietet Mercedes zum Beispiel im neuen Modell E 350 CGI einen V6-Zylinder mit der Schadstoffeinstufung Euro 4 an, während andere Hersteller wie VW in einigen Ottomotoren schon Euro 5 und Euro 6 (!) erreichen. Für einen Hersteller, der Technologievorreiter zu sein vorgibt, nicht gerade ein Aushängeschild. Hier zeigt sich die verhängnisvolle Direktive des ehemaligen Chefentwicklers Schöpf, der die Devise ausgegeben hatte, nur noch das zu machen, was der Gesetzgeber vorgibt. Für Technology-Leadership reicht es nicht aus, nur den Diesel mit AdBlue-Einspritzung sauber zu machen, und sich beim Ottomotor Zeit zu lassen.

Da fragt man sich als Beobachter schon, warum die ehemalige Vorreitermarke so die Zügel schleifen lässt. Im kleinen Kreis der Kommunikatoren wird die zum Teil überkritische Presseberichterstattung schon mal kritisiert, dass man zurzeit eben nicht wirkliche Innovationen verkaufen könne, sondern nur biedere Hausmannskost. Zu Zeiten der großen Produktoffensiven von Jürgen Hubbert sei Pressearbeit doch ein Kinderspiel gewesen. Allerdings gab es da auch Rückschläge wie den berühmt gewordenen Elchtest, bei dem die neue A-Klasse umgefallen war. Dennoch, so beobachtende Kommunikationsexperten, sei die Markenwahrnehmung positiver gewesen.

In der Tat muss man nur die Berichterstattung in den Medien verfolgen, um wahrzunehmen, dass Mercedes-Benz zurzeit an positivem Image verliert. Für die Verantwortlichen ist es höchste Zeit, die Weichen wieder in eine offensive Richtung zu stellen. Das fängt sicher damit an, als Unternehmen Optimismus und Kraft ausstrahlen zu müssen. Starke Marken sind Leuchttürme der Orientierung für die Kunden und darüber hinaus für eine Gesellschaft.

Wer immer nur kommuniziert, wie schlimm die Lage ist, verunsichert die Käufer ebenso wie deren Umfeld. Da berichtet „Auto Motor und Sport“ zum Beispiel: „Inzwischen sieht sich Audi in Westeuropa sogar als Marktführer in der Premiumklasse, vor BMW und Daimler. In den ersten drei Monaten haben wir mit starken Marktanteilszuwächsen in Westeuropa die Führerschaft im Premiumsegment übernommen“, bekräftigt Audi-Chef Rupert Stadler. „Auch in den USA legen wir deutlich zu. Und im ersten Quartal haben wir einen Profit von rund 360 Millionen Euro erwirtschaftet. Wir machen also in Summe einen guten Job. Durch unseren Erfolg werden wir vom Jäger zum Gejagten.“

Ganz anderes hört man von Mercedes: Trotz der aktuell guten Nachfrage nach der neuen E-Klasse hat Daimler aus Kosten- und Cash-Flow-Gründen die Einführung neuer E-Klasse-Varianten verschoben. Grund: „Der Konzern will zu einer Jahreszeit, da wenige Menschen an den Kauf eines Cabrios denken, keine begleitenden Marketing- und Vertriebskosten aufkommen lassen und stattdessen mit dem Auto in den Frühling durchstarten“, heißt es.

Wer weiß, wie langfristig Produktvorstellungen terminiert werden, kann diese Begründung für die Verschiebung nicht glauben. Dass im Winter kein Cabrio-Wetter herrscht, kommt so überraschend wie Weihnachten. Dann hätte ja das Mercedes-Marketing erst jetzt darüber nachgedacht, wann der Zeitpunkt für die Markteinführung der richtige ist. Und das würde dem Vertrieb kein gutes Zeugnis ausstellen. Außerdem weiß es die Marktforschung besser: Eine Kaufentscheidung für ein Cabrio fällt nicht nur im Frühling und völlig wetterunabhängig. Im Gegenteil: In der dunklen Jahreszeit macht gute „sonnendurchflutete“ Werbung und Kommunikation Appetit auf den nächsten Sommer und ein neues Cabrio.

Der Grund für die Terminverschiebung, so hört man es aus der Mercedes-Entwicklungsabteilung, dürfte eher das Problem mit der Steifigkeit des neuen Cabrios sein. Denn zum ersten Mal müssen die Ingenieure selbst machen, was früher Zulieferer Karmann mit viel Cabrio-Erfahrung entwickelt hat. Diese Kompetenz zurück ins eigene Haus zu holen, mag zwar sinnvoll sein, aber eben auch mit Problemen behaftet. Auch das hätte man wissen können, nein, wissen müssen.

Wenig innovativ ist auch das (hoffentlich nur vorläufige) Streichen der Pläne für den Dieselhybrid in der S-Klasse, der in Sachen Hybrid das Verbrauchsoptimum darstellen kann und bereits nächstes Jahr hätte kommen sollen. „Der V6-Bluetec-Hybrid wäre der Renner geworden, was ist bloß mit denen los, warum haben die kalte Füße bekommen?“, fragt sich ein Marketingmann der Konkurrenz.

Stattdessen setzt Entwicklungsvorstand Weber auf einen besonders sparsamen Vierzylinder-Diesel. Ein Marketingexperte hält das für falsch: „Ich kann mir nicht vorstellen, dass der Käufer eines Luxusautomobils einen Vierzylinder in der S-Klasse akzeptiert. Der wird nie jene Laufkultur haben, die der Kunde der S-Klasse erwartet. Da können die entwickeln und aufladen, wie sie wollen. Die Physik lässt sich nicht außer Kraft setzen. Stattdessen müsste man den Sechszylinder so sparsam wie einen Dreizylinder machen …“

Wie wahr das ist, zeigt sich auch bei der aktuellen Vorstellung der Hybrid-S-Klasse, immerhin batterietechnisch eine Innovation. Trotzdem fragt man sich als Kunde natürlich, ob das wirklich Sinn macht, Mehrkosten von mehr als 9000 Euro zu bezahlen, die sich erst nach 300 000 Kilometer Gesamtfahrtstrecke hereinholen lassen. So lange behält der Erstkunde das Auto sicher nicht.

Der „Stern“ schreibt in einem Test dazu: „Wer beim Preis wie beim Spritverbrauch sparen will, für den ist der S 350 DI womöglich die bessere Wahl. Dessen Sechszylinder-Diesel schluckt mit 7,6 Litern weniger – allerdings wieder nach Euro-Norm – und ist 12 316 Euro billiger.“ Allerdings wird der neue Hybrid von Experten auch über den grünen Klee gelobt. So hat die renommierte Technische Universität in Wien den „Professor Ferdinand Porsche Preis 2009“ an Konzernforscher Prof. Dr. Herbert Kohler von der Daimler AG verliehen, weil er zusammen mit Kollegen der Temic GmbH die Lithium-Ionen-Batterie für den Einsatz in der S-Klasse serienreif entwickelt hat und damit Bahnbrechendes geleistet habe.

Dennoch scheint die kritische Presseberichterstattung in den Medien zuzunehmen. Zu messen ist die zunehmend kritische Einstellung sogar auf dem Markt. Denn die Loyalitätsrate im Kreis der Mercedes-Käufer sinkt seit Jahren. Während früher galt, einmal Mercedes, immer Mercedes, neigen Kunden bei einem Neukauf nun immer öfter zum Wechsel der Marke. Nutznießer sind vor allem Audi und Volkswagen.

Es wird Zeit, dass Mercedes gegensteuert. Mit guten Produkten (die sind ja eigentlich schon da) und guten Botschaften, die auch vermittelt werden und ankommen müssen. Vielleicht hilft es ja, dass Mercedes jetzt mit einer Reihe von Redaktionsbesuchen bei wichtigen Medien für ein besseres Verhältnis zu ihnen sorgen soll. Kommunikation ist eben alles, und ohne Kommunikation ist alles nichts. Auch die besten Produkte nicht.

Böse Stimmen im Hause Daimler sagen, dass Teile des Managements nicht gerade vor Führungskompetenz strotzten. „Wo sich das Daimler-Management heraushält, sind die Produkte unserer Ingenieure erfolgreich.“ Das klinge wie ein Widerspruch, zeige sich aber sogar in der Formel 1: „Wo wir nichts zu sagen haben, gewinnen Mercedes-Motoren im Brawn-Team Formel-1-Rennen. Mit unserem eigenen Team liegen wir weit hinten.“ Was sicher nur Sarkasmus ist, macht aber die Stimmung deutlich.

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