Interview: Autonomes Fahren

Interview zum autonomen Fahren: Zeit ist der wahre Luxus

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Die Vision des Unternehmens vom autonomen Fahren und weitere Schritte auf dem Weg zur Revolution der Mobilität erläuterten Prof. Dr. Thomas Weber, Mitglied des Vorstands der Daimler AG, verantwortlich für Konzernforschung und Mercedes-Benz Cars Entwicklung, und Prof. Dr. Herbert Kohler, Leiter Konzernforschung und Nachhaltigkeit sowie Umweltbevollmächtigter der Daimler AG. Wir dokumentieren das umfangreiche Frage- und Antwortspiel anlässlich erster Fahr-Erfahrungen mit dem Forschungsfahrzeug Mercedes-Benz F 015 Luxury in Motion.

Der F 015 Luxury in Motion lotet die Möglichkeiten des autonomen Fahrens erstmals ganzheitlich aus. Welche Bedeutung hat für Sie das selbstständig fahrende Automobil?

Prof. Dr. Thomas Weber: „Autonomes Fahren ist eine der größten Innovationen seit der Erfindung des Automobils. Der Fahrer wird in Situationen entlastet, in denen Fahren wenig Spaß macht, und die gewonnene Zeit im Auto bekommt eine völlig neue Qualität – durch die Freiheit, sich beim Fahren mit anderen Dingen zu beschäftigen als Lenken, Beschleunigen und Bremsen.“ Prof. Dr. Herbert Kohler: „Das sehe ich genauso. In einer Welt, die von räumlicher Enge und Hektik geprägt ist, wächst der Wunsch der Menschen nach Privatheit und Individualität. Das Automobil wird zum Rückzugsraum. Das autonome Fahren öffnet diesen Raum mit der Freiheit, die Zeit unterwegs ganz individuell zu nutzen.
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Mit dem Mercedes-Benz S 500 Intelligent Drive hat Daimler bereits gezeigt, dass autonomes Fahren schon heute in realen Verkehrssituationen technisch machbar ist. Welche Funktion hat der F 015 Luxury in Motion darüber hinaus?

Weber: „Wir verstehen uns als Pioniere des autonomen Fahrens und treiben diese Entwicklung konsequent voran. Daher haben wir alles, was diese Entwicklung mit sich bringt, im Blick – zum Beispiel auch, wie autonomes Fahren das Interieur revolutioniert. Mit dem F 015 machen wir diesen Aspekt noch attraktiver und für den Menschen begreifbar und erfahrbar.

Kohler: „ Konzepte wie der F 015 sind notwendig, um den gesellschaftlichen Diskurs zur Mobilität und Gestaltung urbaner Lebensräume voranzutreiben. Dabei ist es ein sehr wichtiger Teil unserer Innovationskultur, den Menschen mit seinen Bedürfnissen und Wünschen in den Mittelpunkt unserer Betrachtungen und Entwicklungen zu stellen. Natürlich nutzen wir dafür die hausinterne Expertise unseres weltweiten R&D-Netzwerks. Wir tauschen uns aber auch mit Avantgardisten und Fachleuten verschiedenster Disziplinen aus. So haben wir mit dem Mercedes-Benz Future Talk im Jahr 2013 eine Dialogreihe gestartet, die für uns durchaus eine Inspirationsquelle ist.“

Welche Ideen von Zukunftsszenarien flossen konkret in die Konzeption des F 015 Luxury in Motion?

Kohler: „Unser Zukunftsszenario nimmt das Jahr 2030+ in den Blick. Die Urbanisierung wird weiter fortschreiten. Dieser Trend ist weltweit klar absehbar. Der heute schon knappe Raum in den Städten wird sich weiter verdichten. Ganz wichtig in diesem Zusammenhang: Autonomes Fahren wird ein gesellschaftlich akzeptierter Teil des mobilen Alltags sein. Das bringt sowohl technische als auch soziale Veränderungen mit sich.“ Weber: „Auch das Autofahren an sich wird sich ändern. Der Mercedes-Benz F 015 Luxury in Motion zeigt das in aller Konsequenz. Er bietet als autonom fahrende Luxuslimousine vier Passagieren ausgesprochen großzügigen Raum. Das Interieur hat einen Lounge-Charakter und ist ein umfassend vernetzter, digitaler Erlebnisraum. Die Insassen können die Zeit im Fahrzeug zum Entspannen, zum Kommunizieren oder zum effizienten Arbeiten nutzen. Das ist ein echter Gewinn an Lebensqualität.
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Das Automobil als privater Rückzugsraum in der Hektik des Verkehrs?

Kohler: „Ganz genau, das ist in unseren Augen der wahre Luxus der Zukunft. Unsere Vision ist aber auch, dass das Automobil etwas an die Gesellschaft zurückgibt und einen Mehrwert für die Allgemeinheit bietet. So kann das intelligente Fahrzeug andere Verkehrsteilnehmer vor potenziellen Gefahren warnen oder frühzeitig über bestimmte Verkehrssituationen informieren und so das Verkehrsgeschehen positiv unterstützen. Der Schlüssel für diesen Mehrwert sind Kommunikation und Interaktion.“

Ein Auto, das kommuniziert – das klingt nach Science Fiction.

Weber: „Das ist heute schon Realität, etwa mit Live Traffic Information oder dem automatischen Notruf. Und so neu ist das ja nicht: Auch wenn man den Blinker betätigt, kommuniziert man – beziehungsweise das Auto – mit dem Umfeld. Aber der F 015 kann viel mehr. Er hat an Front und Heck große Kommunikationsdisplays mit LED-Feldern. Über die Farbe seiner Beleuchtung signalisiert der F 015 damit unter anderem, in welchem Fahrmodus er sich befindet: Blau steht für autonom, Weiß für manuell. Nimmt der F 015 einen Fußgänger am Straßenrand wahr, wird über wellenförmige Lichtsignale im LED-Grill angezeigt, dass das Fahrzeug ihn gesehen hat. So wird Vertrauen zwischen Mensch und Maschine aufgebaut, denn den klassischen Augenkontakt zum Fahrer gibt es ja dann so nicht mehr.“

Kohler: „Kommunikation ist der Schlüssel. Möchte ein Passant beispielsweise die Straße überqueren, stoppt der F 015 und prüft im Fahrzeugumfeld, ob das für ihn gefahrlos möglich ist. Wenn ja, projiziert er mit einem hochpräzisen Laser-System einen virtuellen Zebrastreifen auf die Straße und signalisiert dem Fußgänger zusätzlich akustisch mit einem „Please go ahead“, dass der Weg frei ist.“

Woher nimmt das Auto die erforderlichen Informationen?

Weber: „Der F 015 verfügt über eine umfassende Sensorik, mit der er sein Umfeld rundum permanent erfasst. Den Stereokameras, dem Radar und anderen Sensoren entgeht so schnell nichts. Sie werden auch nicht unaufmerksam oder müde. Zudem ist das Fahrzeug umfassend vernetzt und bekommt über das Internet jederzeit aktuelle Informationen – auch über Dinge, die sich außerhalb des Erfassungsbereichs der eigenen Sensorik abspielen. All diese Daten werden zusammengeführt ausgewertet und adäquat interpretiert. Wir nennen das intelligente Sensorfusion.“
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Und in welcher Sprache kommunizieren Mensch und Maschine mit-einander?

Kohler: „Die Interaktion im Innenraum erfolgt intuitiv über natürliche Gesten, Eye-Tracking- oder Touch-Bedienung. An der Entwicklung einer universellen und eindeutigen Kommunikation zwischen Mensch und Maschine außerhalb des Fahrzeugs arbeiten wir ebenfalls intensiv. Nach unserer Vorstellung bleibt der Mensch in jedem Fall immer der Souverän und Dirigent.“

Die umfassende Vernetzung des Automobils wirft auch Fragen zu Datenschutz und Datensicherheit auf.

Kohler: „Wir verfolgen einen Cloud-basierten Ansatz. In Kombination mit dem Daimler Vehicle Backend, einem speziell abgesicherten Server, ist jeder Zeit ein sicherer und verschlüsselter Datenaustausch gewährleistet. Im Sinne unserer Kunden ist uns neben der Datensicherheit auch der Datenschutz und damit Transparenz sehr wichtig. Der Kunde muss wissen, wann welche Daten zu welchem Zweck erhoben werden, und kann selbst entscheiden, welche Daten er freigeben möchte. Für den Zugriff auf die Daten gibt es strenge Regeln und Vorschriften, deren Einhaltung durch unabhängige Audits überprüft wird.“

Weber: „Bei der Entwicklung des voll vernetzten Fahrzeugs hatten wir das Thema Datenschutz von Anfang an im Fokus. Das Auto der Zukunft wird mehr und mehr zum digitalen Begleiter. Das bedeutet gleichzeitig, dass es nicht nur verkehrs- und betriebssicher, sondern auch datensicher sein muss. Dieser sorgfältige und sichere Umgang mit Daten ist ein zentraler Faktor für die Akzeptanz der neuen Technologien.“

Ihre älteren Projekte zum autonomen Fahren – S 500 Intelligent Drive und Future Truck 2025 – wurden in Deutschland präsentiert. Aber autonom wollen Sie sicherlich weltweit fahren?

Weber: „Ja, und daher testen wir natürlich weltweit, um die unterschiedlichen Gegebenheiten bei Verkehr und Infrastruktur zu berücksichtigen. Seit Mitte September 2014 besitzt Mercedes-Benz als einer der ersten Automobilhersteller die offizielle Lizenz des US-Bundesstaats Kalifornien, um dort selbstständig fahrende Fahrzeuge auch auf öffentlichen Straßen zu testen. Zusätzlich nutzen wir die Concord Naval Weapons Station (CNWS) als größtes Testgelände in den USA für die weitere Erprobung dieser Zukunftstechnologie. Dieses stillgelegte Militärgelände bietet mit seinem stadtähnlichen Straßennetz eine realistische Verkehrsumgebung.“
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Wie steht es generell um die rechtlichen Voraussetzungen zum autonomen Fahren auf öffentlichen Straßen?

Kohler: „Die sind aktuell von Staat zu Staat unterschiedlich, teilweise so-gar von Bundesstaat zu Bundesstaat, gerade wenn man in die USA schaut. Aber es bewegt sich etwas: Im vergangenen Frühjahr hat ein Expertenausschuss der Vereinten Nationen eine Ergänzung der Wiener Straßenverkehrskonvention von 1968 in Angriff genommen und damit die Basis für die Legalisierung des autonomen Fahrens geschaffen. Entsprechende Systeme sollen künftig zulässig sein, wenn sie jederzeit vom Fahrer abgeschaltet oder übersteuert werden können. Wir fordern jetzt eine zügige Umsetzung dieser Gesetzesnovelle und entsprechender Bestimmungen auf nationaler Ebene.“

Was sind die weiteren Schritte auf dem Weg zum autonomen Fahren?

Weber: „Beim autonomen Fahren wird es nicht den einen großen Paukenschlag geben. Es wird vielmehr eine Entwicklung sein, die Schritt für Schritt erfolgt. Ich bin zuversichtlich, dass wir unseren Kunden noch in diesem Jahrzehnt Themen wie komplett automatisches Einparken oder automatisches Fahren auf der Autobahn anbieten können.“

Kohler: „Vergessen Sie nicht: Schon heute entlasten unsere Modelle von der C- und E-Klasse bis zur S-Klasse den Fahrer durch teilautonome Funktionen. Dazu gehört die Distronic Plus mit Lenk-Assistent oder der Stop&Go-Pilot: Das Fahrzeug hält im Stau Anschluss zum vorausfahren-den Fahrzeug und unterstützt auch beim Lenken. Der Aktive Park-Assistent wählt die passende Parklücke aus und übernimmt das Lenken. Der Fahrer muss nur noch Gas geben und bremsen.“

Und wo bleibt der Fahrspaß?

Weber: „Ganz einfach, der wird noch größer. Man kann selbst fahren, wenn man will – nicht, wenn man muss. Wer möchte, wird auch weiterhin die Hände am Lenkrad haben und das Gaspedal durchdrücken können. Fahrspaß lässt sich nicht automatisieren. Aber daneben entwickelt sich eine andere Kultur des Fahrens, die neue Freiheiten ermöglicht. Langfristig werden wir einen Großteil der alltäglichen Fahrten im autonomen Modus absolvieren - komfortabel, sicher und mit der Möglichkeit, die wertvolle Zeit unterwegs effizient und vielseitig zu nutzen.“
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Wird es das Auto in 20, 30 oder 40 Jahren überhaupt noch geben?

Kohler: „Davon bin ich überzeugt. Das Auto bleibt der Inbegriff für individuelle mobile Freiheit, weil es in puncto Komfort und Privatsphäre einfach unübertroffen ist. Sie sehen ja auch die fortschreitende Motorisierung in Ländern wie Indien oder China, in denen sich Wirtschaft und Wohlstand stark entwickeln. Auch dort gibt es eine sehr hohe Nachfrage nach individueller Mobilität.“

Weber: „Gerade die neuen Technologien werden ihren Teil dazu beitragen, dass das Automobil auch künftig nichts an Attraktivität einbüßt. Individuelle Mobilität und moderne Stadtplanung gehen Hand in Hand. Stellen Sie sich vor: Fahrzeuge suchen sich selbstständig Parkplätze an der Stadtperipherie, statt damit das Verkehrsaufkommen und den Flächen-bedarf in der Innenstadt weiter zu erhöhen.“

Kohler: „Bestimmte Zonen in Innenstädten könnten zudem ausschließlich autonomen Fahrzeugen vorbehalten bleiben. Das würde es erlauben, dort die Anzahl an Fahrspuren zu reduzieren und Verkehrsschilder weitgehend abzuschaffen, weil sie einfach überflüssig sind. So kann wieder mehr Platz und Lebensraum für die Menschen entstehen.“

Weber: „Es eröffnen sich in der Tat viele neue, interessante Möglichkeiten im Hinblick auf die städtische Infrastruktur und natürlich auch für die Städte, die sich durch kluge, vorausschauende Planung in eine gute Position bringen können. Lange Rede, kurzer Sinn: Wir sind vom großen Potenzial des autonomen Fahrens fest überzeugt und sehen darin eine vielversprechende Zukunft für das Automobil.

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