Chinesen haben "Sonderwünsche"
Abgesehen davon verlangt der chinesische Markt nach Anpassungen an lokale Vorlieben. So wünschen Kunden im Reich der Mitte weichere Sitzpolster und anschmiegsamere Kopfstützen als Europäer, was zuweilen an Kissenburgen in chinesischen Autos zu beobachten ist. Mercedes hält nun ab Werk weichere Layer vor, deren Passung und Dauerhaltbarkeit die Ingenieure auf Testfahrten sicherstellen. In China schalten Zapfsäulen manchmal nach fünf Liter Betankung ab, weil dem System ein voller Tank vorgaukelt wird. Tatsächlich aber ist meistens nur der Kohle-Aktivfilter mit Feinstaub verschmutzt. Im "chinesischen" GLC wird deshalb ein angepasstes Filtersystem verbaut, dessen Funktionalität durch täglich mehrmaliges Nachtanken kontrolliert wird. Staub- und Wasserdichtigkeit zählt zu den umfangreichsten Themen dieser Erprobungsfahrt. Nach Ausflügen über unbefestigte Pisten, Tiefsand-Passagen und Wasserdurchfahrten lässt Thilo Fischer die Checklisten abarbeiten. Sie schreiben überwiegend Sichtprüfung vor. An Details, wie den Wachsmanschetten an Dämpfer-Anschlagpuffern im Motorraum, an Dichtungsgummis von Türen bis zur Heckklappe. Auch, dass der Anpressdruck des rechten Scheibenwischers nicht hoch genug ist, fällt in einem Fahrzeug auf: Schlieren sollte es auf der Windschutzscheibe eines Mercedes nicht geben. Auf Störgeräusche durch fahrdynamische Anregungen reagiert das Testteam besonders allergisch. Dann gilt es, Vibrationen im Cockpit-Bereich zu lokalisieren und zu protokollieren. Ein Speichergerät im Kofferraum zeichnet darüber hinaus akribisch alle Daten auf. Sie helfen den Experten im Daimler R+D Center von Peking später genau zu definieren, bei welchen Fahrzuständen die Auffälligkeiten eintreten und ob Material- oder Verarbeitungsschwächen zu beheben sind. Auch entscheidende Hinweise, die zur optimalen Kraftstoffaufbereitung und zum direktem Ansprechverhalten des Turboladers in der sauerstoffarmen Luft hochgelegener Gebirgsregionen führen, werden so gewonnen.
Derweil geben die schweren Lastwagen im heftigen Schneetreiben auf. Einige haben sich festgefahren, andere parken einfach auf der Fahrbahn. Thilo Fischer wird einsilbig, sucht auf schneeglatter Fahrbahn nach Schneisen zwischen den unbeleuchteten Kolossen. Seine Techniker folgen auf Sichtweite. Schließlich verständigen sich die Ingenieure über Sprechfunk: Es werde zu gefährlich, noch höher aufzusteigen! Unser Konvoi biegt nach links auf eine Nebenstraße ab. Acht Kilometer später erreichen wir den Yuzhu Gletscher. Der Blick auf die namensgebende Gipfelhöhe in 6.200 Meter überm Meeresspiegel bleibt uns verwehrt. Wir stecken in dichten Wolken. Die Triebwerke der Mercedes GLC verstummen, kühlen ab. Wir atmen schwer, Kopfschmerzen hämmern im Schädel, die dünne Höhenluft fordert Tribut. Doch bevor das Kaltstartverhalten nicht aufgezeichnet ist, bleibt Thilo Fischer hart: "Wir müssen sicherstellen, dass chinesische Kunden auf dem Weg nach Lhasa später keinen Grund zur Beanstandung haben!"
Insgesamt vier Erprobungstouren absolvieren Thilo Fischer und sein Team mit den neuen, lokal gefertigten GLC. Neben der Höhenanpassung im Himalaya müssen sich diese in tropischer Hitze der südchinesischen Insel Hainan, in der trockenen Kälte von Heihe nahe der sibirischen Grenze und natürlich im Smog-belasteten Stop-and-Go Verkehr Pekings bewähren. Der Rückweg ins "Basislager" Golmud dauert wesentlich länger als der Aufstieg. Es gilt Staus in Folge von Unfällen zu erdulden, Kreuzungen zu passieren, in die ungeduldige Autofahrer mehrspurig einfahren, sich gegenseitig blockieren und abdrängen. Auch auf Bergstraßen inszenieren chinesische Autofahrer ein Verkehrschaos, das an den Straßenverkehr in Fahrräder übersäten Megacities der neunziger Jahre erinnert: Wer eine Lücke erkennt, muss sie geradezu zwanghaft besetzen.
Weil neben Baugruppen für Achsteile, Nebenaggregate des Motors, die Zylinderköpfe und auch das komplette Interieur für alle Modellvarianten des neuen Mercedes GLC aus lokaler Herstellung stammen, seien diese chinaspezifischen Erprobungsprogramme zur Qualitätsabsicherung unerlässlich, begründet Thilo Fischer den hier betriebenen Aufwand.
Der chinesischen Markteinführung des GLC 200 4Matic Ende des Jahres wird 2016 der GLC 260 4Matic und GLC 300 4Matic folgen. "GLC 260?", haken wir ein, und Fischer lacht. Dass dieses Modell in China nicht wie im Rest der Welt GLC 250 heißt, folgt einer weiteren lokalen Eigenheit. Die gesprochene Zahl 250 ("Er bai wu") bezeichnet im Chinesischen einen "Dummkopf". Und wer möchte auf chinesischen Straßen als solcher auch noch mit einem Typenschild etikettiert sein?
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