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Es passierte in der 75. Runde der 24 Stunden von Le Mans des Jahres 2012. Satoshi Motoyama war in der sechsten Stunde des Langstreckenrennens mit dem Nissan Delta Wing unterwegs, als er in einer der engen Kurven von einem drängelnden Toyota Hybrid so schwer touchiert wurde, dass er von der Strecke flog und liegenblieb. Zwei Stunden lang versuchte der unverletzte Japaner, der in seiner Heimat ein Rennidol ist, das mattschwarze Fahrzeug wieder flott zu machen.
Über Funk mit der Box verbunden, rüttelte er auf Anweisung der Mechaniker die verkeilten Karbonteile, rutschte unter den Delta Wing, um die Vorderachse zu untersuchen, tüftelte unter der langen Haube an der Lenkung und musste schließlich – sichtlich von heftigen Weinkrämpfen geschüttelt – aufgeben. Der gefilmte [foto id=“423515″ size=“small“ position=“left“]Einsatz als verzweifelter Pannenhelfer verzeichnet auf Youtube mittlerweile über 80.000 Clicks.
Wenn man in die Gesichter der Väter des Nissan Delta Wing blickt, erkennt man neben der rennsporttypischen Erschöpfung aber auch Optimismus und – Zufriedenheit. „Wenn er zwei Stunden durchhält, ist das schon ein großer Erfolg“, hatte Jerry Hardcastle, bei Nissan so etwas wie der globale Machbarkeitsingenieur, vor dem Rennen gemeint. Ben Bowlby, Designer und Konstrukteur des außergewöhnlichen Gefährts, will nach einem Jahr Dauerstress zunächst nur Urlaub mit der Familie machen, aber: „wir machen natürlich weiter.“ Mit der doch geglückten Bewährungsprobe auf dem Circuit de la Sarthe hat sich ein Traum erfüllt: Ein Rennwagen mit einer völlig neuartigen Architektur kann hier bestehen, kann auf der berühmten Geraden von Hunaudières Geschwindigkeiten von über 300 Stundenkilometern erreichen, kann legendäre Kurven wie die Mulsanne oder die Porsche meistern, ohne abzufliegen. Auf der knapp 14 Kilometer langen Strecke legt er mit rund 3,35 Minuten Rundenzeiten hin, die erstaunlich nah an den schnellsten sind. Er könnte sogar in Le Mans – dieser einzigartigen Mischung aus Wallfahrt und Kirmes – 24 Stunden lang um den Sieg fahren. Zur Premiere fuhr der Nissan Delta Wing allerdings noch außer [foto id=“423516″ size=“small“ position=“right“]Konkurrenz. Offensichtlich von seinem Potenzial überzeugt, hatten ihm die französischen Organisatoren aber den Garagenplatz 56 für Experimentalfahrzeuge zugeteilt. Fortsetzung folgt.
Der innovative Ansatz des Delta Wing weckte seit seiner Vorstellung im März bereits großes Publikumsinteresse. Den exzentrischen britischen Motorjournalisten von „Top Gear“ war diese Mischung aus Batmobile und Überschallflugzeug sogar einen liebevoll gefertigten Nachbau wert. Ein Ritterschlag unter Enthusiasten, bewies dieses Bastelwerk doch, dass Bowlby und sein Team mit ihren aerodynamischen Überlegungen für kreative Unruhe in der Branche gesorgt hatten. Vermutlich haben die Konstrukteure und Ingenieure der anderen Teams diesen speziellen Rennverlauf aufmerksam verfolgt. Dabei fand die eigentliche Revolution in dieser 80. Auflage des 24-Stunden-Rennens auf den vordersten Plätzen statt: Audi siegte sensationell mit den beiden erstmals gestarteten R18 e-tron quattro Diesel-Hybriden. Ein Rückschlag für Hybrid-Altmeister Toyota, aber auch ein Zeichen, dass Nachhaltigkeit und Wirtschaftlichkeit [foto id=“423517″ size=“small“ position=“left“]den Rennsport der Zukunft bestimmen werden.
Für Andy Palmer, einem der Hauptverantwortlichen bei Nissan, wie bei Bowlby klafft schon seit Jahren eine Lücke zwischen den Innovationen des Motorsports und den Produktionsfahrzeugen für den Normalbetrieb. Ähnlich denkt man vermutlich auch in Ingolstadt. Diesen wiederbelebten Technologietransfer von Rennstrecke zu Strasse soll der Delta Wing leisten. Beim Nissan-Konzept ist es die Deltaform, die nicht allein als Blickfang dient, sondern eben bei hohen Geschwindigkeiten für den notwendigen Abtrieb sorgt. Eine modifizierte, ursprünglich bei Aston Martin gekaufte Wanne leitet zusammen mit der speziellen, sehr schmalen Konstruktion der vorderen Achse die Luftströme fast verwirbelungsfrei nach hinten. Deswegen wurde beim Deltaflügler auf die sonst üblichen aerodynamischen Aufbauten verzichtet. Marino Franchitti und Michael Krumm, die beiden anderen Fahrer, erwarteten zunächst auch, dass sich der Bolide mit der Haischnauze irgendwann der Kontrolle entziehen würde. „Obwohl 75 Prozent des Gewichts hinten sind“, erzählt Krumm, „ist er erstaunlich stabil und spurtreu. Und zieht beim Beschleunigen in der Kurve [foto id=“423518″ size=“small“ position=“right“]anstandslos nach vorne.“
Mit 500 Kilo ein Leichtgewicht in der LMP-1-Protoypenklasse von Le Mans, wo die Konkurrenten in dieser Königsdisziplin meist an die 400 Kilogramm schwerer sind, hat der Delta Wing die Hälfte an Luftwiderstand und verbraucht auch nur die Hälfte. Reifenpartner Michelin, der ebenfalls früh von der Studie begeistert war, schneiderte Spezialpneus für die zierliche Vorderachse, die an die Dimensionierung von 2CV-Reifen erinnern. Nissans Motorsport-Abteilung Nismo bestückte den Delta Wing mit dem 1,6-Liter-Vierzylinder, den Juke-Fans aus ihrem eigenen Fahrzeug kennen. Getreu der Philosophie dieses „Game changers“, dieses Rennwagens, der die Regeln neu schreiben könnte, fließt die Expertise der Speed-Ingenieure bereits in die Serie: unisichtbar für den Kunden wurden an der vorderen Achse kleine Blenden verbaut, die eine ruhigere Luftströmung an den Kotflügeln und damit im Kraftstoffverbrauch begünstigen. Im nächsten Jahr feiert auch der Juke Nismo Premiere. Zu den technischen Daten wollte man bei Nissan noch nichts sagen, nur soviel: der Top-Motorisierung mit 190 PS wird deutlich mehr Le Mans-Luft eingehaucht. Neues Jahr, neues Glück. Und dann heißt es vielleicht auch für das Deltaflügler-Team: Gentlemen, start your engines.
geschrieben von auto.de/sp-x veröffentlicht am 18.06.2012 aktualisiert am 26.05.2023
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