Reifen: Vor dem Bäcker kommt der Schnitzer

Die Gestaltung des Reifenprofils ist ein wesentliche Faktor, der die Funktion eines Pneus bestimmt. Bei der Entwicklung neuer Profile leisten heutzutage zwar modernste Rechner die Hauptarbeit, doch für die Fertigung der ersten Prototypen eines neuen Reifenmodells ist nach wie vor die Handarbeit eines Reifenschnitzers unersetzlich.

„Form follows function – das Aussehen muss sich der Funktionalität unterordnen“: Selten trifft diese Aussage präziser zu als bei dem Profil eines Reifens. Denn die Profilgestaltung entscheidet mit über die wesentlichen Kriterien der Leistungsfähigkeit. Beispielsweise bei den drei Merkmalen, die auf dem ab dem 1. November 2012 vorgeschriebenen EU-Reifenlabel gekennzeichnet werden müssen: Geräuschemissionen, Nassbremswege und Rollwiderstand. Insbesondere bei den Geräuschemissionen ist die Form der Profilrillen, die Anordnung der Nuten sowie die Länge und Abfolge der Profilblöcke maßgeblich für die Geräusche, die ein Reifen unabhängig von der Fahrbahnbeschaffenheit erzeugt. Auch über den Rollwiderstand und damit den Kraftstoffverbrauch ist der Einfluss des Profils durchaus nachweisbar.

Bevor der Reifenschnitzer ans Werk gehen darf, und aus einem profillosen Slick ein Profil herausarbeitet, das einem zulassungsfähigen Reifen entspricht, haben die Ingenieure bereits viel Vorarbeit geleistet. Die Funktionalität von Profilen lässt sich berechnen und mit Computersimulationen überprüfen. Dank nahezu unbegrenzter Rechnerkapazitäten gelingt das wesentich umfassender und schneller als noch vor 20 Jahren. Über 50 Testkriterien müssen die Entwickler berücksichtigen. Die rechnerisch besten Entwürfe gehen in den Praxisversuch an Fahrzeugen oder Prüfmaschinen. Denn trotz aller Berechnungen bleibt der Praxisversuch unersetzlich. Da jedoch eine Reifenform, die einen Negativabdruck des Profils darstellt, und in der die Reifen gebacken werden, eine kostspielige Angelegenheit ist, müssen die ersten Testreifen im wahrsten Sinne aus dem Vollen geschnitzt werden.

Aus dem Vollen heißt, dass die Reifenbäcker profillose Reifen mit der vorgesehenen Größe, Konstruktion und Mischung eines Serienreifens herstellen. Dann schlägt die Stunde des Reifenschnitzers. Er muss handwerklich begabt und körperlich kräftig sein, eine ruhige Hand besitzen, ein gutes Auge haben. So wie Rainer Hein, Leiter der Versuchsschnitzerei bei Continental: „Neue Reifenmodelle werden nicht in Reifenformen, sondern per Hand hergestellt. Die Zukunft gehört jedoch dem „Industrie-Schnitzroboter“, aber allerdings nur bis zu einem bestimmten Punkt. Denn bestimmte Handfertigkeiten bleiben dem „humanoiden“ Schnitzer auch künftig vorbehalten.

Reifenschnitzer ist kein klassischer Ausbildungsberuf. Die Praktiker weisen die unterschiedlichsten Berufe aus, vom Schlosser bis zum Ingenieur. Mindestens zwei Jahre Übung sind für den Schnitzer erforderlich. Sein Handwerkszeug, das Schnitzmesser, ist elektrisch beheizt, damit die scharfe Klinge sicher und präzise durch die zähe schwarze Masse gleiten kann. Gleichzeitig wird ein hohes Maß an Fingerspitzengefühl verlangt, denn die Schnitte müssen exakt entlang der auf dem Reifen vorgezeichneten Linien führen und dürfen weder zu flach noch zu tief, zu langsam oder zu schnell ausgeführt werden. Ein einziger Ausrutscher und der Versuchsreifen ist Sondermüll.

Knapp 2 000 Reifen jährlich entstehen in der Versuchsschnitzerei bei Continental in Handarbeit. Der hannoversche Reifenhersteller beschäftigt derzeit 13 Handwerker, die nach Vorgaben der Profilentwickler ins Gummi schneiden. „Für einen Sommerreifen sind rund 13 Stunden erforderlich, ein wegen der vielen feinen Einschnitte komplizierterer Winterreifen schlägt mit rund 40 Stunden Schnitzaufwand zu Buche“, berichtet Hein.

Mit einem einzelnen Satz handgeschnitzter Reifen kommen die Tester bei ihrer praktischen Arbeit nicht aus. Manchmal sind 20 und mehr Exemplare eines neuen Profilmusters erforderlich, um alle Versuche abdecken zu können. Die handgeschnitzten Reifen einer einzelnen Profilform unterscheiden sich dabei nur in winzigsten Nuancen voneinander. Schließlich dürfen die Testreifen nur minimal von den Vorgaben der Entwickler abweichen, wenn die Testcrew ihr Urteil später zuverlässig abgeben soll. Die Reifenschnitzer in Hannover hören dann von den Ergebnissen ihrer Arbeit erst nach Millionen von Testkilometern. Doch für die Handwerker ist das nur noch Erinnerung an einen schon lange zurückliegenden Auftrag. Sie arbeiten schon längst am nächsten Reifenmodell.

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