Schärfere Crash-Tests – Kleinwagen unter Zugzwang

Die Crashtest-Regeln von EuroNCAP werden in den kommenden Jahren weiter verschärft – bis an die Grenze des technisch Machbaren. Ohne Hightech-Assistenten wie Onboard-Kameras und Radarsensoren ist es künftig nicht mehr möglich, die Höchstwertung von fünf Sternen zu erreichen. Kein Problem für eine S-Klasse; das Mercedes-Flaggschiff und viele seiner Oberklassekonkurrenten erfüllen die meisten Anforderungen schon heute. Klein- und Kleinstwagen jedoch müssen kräftig aufrüsten. Und der Kunde muss tiefer in die Taschen greifen – zumindest vorläufig.

Die erste Verschärfung der Testkriterien steht schon für das laufende Jahr an. Neben höherer Insassensicherheit, ordentlichem Fußgängerschutz und einer Grundausstattung an elektronischen Helfern verlangt EuroNCAP dann auch eine Verkehrszeichenerkennung von seinen Fünf-Sterne-Kandidaten. Der Assistent liest mithilfe einer Kamera hinter der Windschutzscheibe die Schilder am Straßenrand mit und warnt der Fahrer etwa bei Geschwindigkeitsübertretungen. Im Extremfall kann er das Auto auch selbstständig abbremsen.
 
Die stärkere Fokussierung auf elektronische Assistenten hat seinen Grund. „Die passive Sicherheit in Form von crashoptimierten Karosserien und immer umfangreicheren Airbag-Systemen stößt zunehmend an ihre Grenzen“, erklärt Thomas Fischer, Entwicklungsleiter für Fahrzeugsicherheit beim Wuppertaler Zulieferer Delphi. Solle die Zahl der Verkehrstoten weiter reduziert werden, gehe das nur noch mit immer intelligenteren Autos.
 
Zunächst dürften wohl auch Fahrzeuge ohne Verkehrszeichenerkennung noch fünf Sterne in der Gesamtwertung erhalten, wenn sie das Fehlen des Assistenten durch besonders gute Leistungen in anderen Bereichen wettmachen. Doch das klappt nicht dauerhaft, steht doch 2014 schon der nächste Sprung im Anforderungsprofil an. Nämlich in Form eines automatischen Notbremsassistenten. Zunächst muss der nach EuroNCAP-Vorstellung lediglich bei niedrigen Geschwindigkeiten im Stadtverkehr dann eingreifen, wenn eine Kollision unvermeidlich ist. Später auch bei Landstraßentempo. Ohne dieses Sicherheitssystem gibt es ab 2015 keine fünf Sterne mehr.
 
Die meisten großen Hersteller sind aber auf das prestigeträchtige Sterne-Quintett angewiesen. Zwar sind die Tests von EuroNCAP nicht gesetzlich vorgeschrieben; auch Autos, die dort komplett versagen, können in Deutschland und Europa zugelassen werden. Doch für viele Autokäufer spielen die Sterne eine zentrale Rolle. Ein Pkw mit weniger als vier der [foto id=“458912″ size=“small“ position=“left“]Himmelskörper hat in Deutschland kaum noch Verkaufschancen. Die meisten Hersteller entwickeln ihre Autos daher zielgerichtet auf die Testkriterien hin.

Wirklich sportlich wird es für sie ab 2016

Dann muss der Notbremsassistent auch querende Fußgänger erkennen. Und das fällt ihm deutlich schwerer als etwa das Registrieren von vorausfahrenden Fahrzeugen. Während letztere zumindest grob ähnliche Formen aufweisen, gibt der Fußgänger für das Computerauge in der Videokamera schon dann ein komplett anderes Profilbild ab, sobald er vom gemächlichen Gehen in einen flotteren Trab fällt. Oder einen Kinderwagen schiebt. Oder einen Hund an der Leine führt. Wie ambitioniert die Vorgaben sind, sieht man daran, dass mit Volvo und Lexus aktuell nur zwei Hersteller ein entsprechendes Angebot im Programm hat – für knapp 2.000 Euro beziehungsweise knapp 9.000 Euro Aufpreis.

Die Technologie ist daher gar nicht das Hauptproblem

„Rein technisch gesehen sind die neuen Anforderungen durchaus zu erfüllen“, weiß Thomas Fischer, „die Frage ist aber, was finanziell möglich ist“. In der Oberklasse und bei Premiumherstellern verschwinden die Zusatzkosten noch in der hohen Gesamtsumme. In Klein- und Kleinstwagen hingegen fallen sie deutlich stärker ins Gewicht. Käufer werden bei einem Auto für knapp 10.000 Euro kaum einen vierstelligen Aufpreis akzeptieren, Sicherheitsplus hin oder her.

Mit seinem Team hat Fischer daher eine besonders kompakte und günstige Video-Radar-Einheit entwickelt. Das nur Handy-große Modul findet hinter der Windschutzscheibe am Rückspiegel Platz und erfüllt mit der passenden Software alle verlangten Funktionen: Die Kamera erkennt Verkehrsschilder, unbelebte Hindernisse und Passanten, der Radar sichert die Ergebnisse zusätzlich ab. Aufgrund der erwartbaren Volumeneffekte bei der Produktion rechnet Fischer mittelfristig mit einer deutlichen Senkung der aktuellen Herstellungskosten. Der Mehrpreis pro Fahrzeug könnte sich dann auf wenige 100 Euro einpendeln. Aktuell sind moderne Assistenten in den kleinen Klassen – so sie denn überhaupt zu bekommen sind – noch deutlich teurer. VW etwa bietet im Ende 2011 eingeführten Kleinstwagen Up einen City-Notbremsassistent im Paket mit anderen Extras für 590 Euro an.
 
Langfristig könnten die neuen Assistenzsysteme Autos aber sogar billiger machen. „Notbremsassistent und Verkehrszeichenerkennung sind nur eine Zwischenstufe zum autonomen Auto“, meint Fischer. Mit zumindest teilweise selbstfahrenden Pkw sei künftig sogar das EU-Ziel von null Verkehrstoten machbar. Und wenn es keine schweren Unfälle mehr gibt, könnten Autos bei der passiven Sicherheit abrüsten. Sie würden wieder leichter, sparsamer und kämen auch ohne die aktuelle Armada von teuren Airbags aus. Letztendlich sorgen Radar und Co. also vielleicht nicht nur für höhere Sicherheit, sondern langfristig auch für niedrigere Preise.

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