Schanghai: Im Reich der fliegenden Fahrrad-Händler

Für China-Romantik ist auf Shanghais Straßen kein Platz. Längst vorbei sind die Zeiten, in denen es in der Stadt am Huangpu-Fluss mehr Fahrräder als Einwohner gab. Das Taxi ist in der 19-Millionen Metropole inzwischen das Volksbeförderungsmittel Nummer eins: 40 000 Taxis schieben sich täglich durch Schanghais chronisch verstopfte Straßen, ein für europäische Augen undurchdringliches Gewirr aus Ober- und Unterführungen, Autobahnen und Seitensträßchen. Das Kuriose: So gut wie alle Taxis stammen von VW.

„Santana“ heißt das Wolfsburger Modell, das Schanghais Bewohnern fort bewegt. In Deutschland war die Stufenheck-Limousine ein Flopp und wurde schon 1984 wieder eingestellt. Auf den Straßen der [foto id=“356037″ size=“small“ position=“left“]Messemetropole leistet das auf Basis einer alten Passat-Plattform stehende, vor Ort von Shanghai Volkswagen im Joint Venture mit SAIC gebaute Mittelklassmodell aber bis heute gute Dienste. Seine Beliebtheit als Taxi verdankt der ab 90 000 Yuan, umgerechnet: 9 475 Euro, erhältliche Viertürer unter anderem seiner für chinesische Verhältnisse gehobenen Ausstattung und einem geräumigen Kofferraum. Hinzu kommt die Tatsache, dass sein mindestens 66 kW/90 PS leistender 1,8-Liter-Vierzylinder-Motor im Gegensatz zu vielen einheimischen Wettbewerbern die für Taxis gesetzlich vorgeschriebene Mindestgröße von 1,6 Litern Hubraum erfüllt.

Bei uns schon zu „Lebezeiten“ als Auslaufmodell belächet, vollbringt der in hunderttausendfacher Auflage produzierte Santana als Taxi wahre Wunderdinge in Schanghai. Ohne seine Mithilfe wäre der [foto id=“356038″ size=“small“ position=“right“]Verkehr in der staugeplagten 19-Millionen Metropole komplett kollabiert. Santana-Taxis sind Alltagsverkehrsmittel, kein Premium-Beförderungsmittel für reiche Leute und Touristen. Mit einem Grundpreis von zwölf Yuan, umgerechnet gut 1,25 Euro, für die ersten drei Kilometer kostet das Taxi nur ein paar Cent mehr als eine Metro-Ticket. Eigenhändig Autofahren ist in der Metropole ein teures Vergnügen, das sich bei Zulassungsgebühren um 4 000 Euro kaum ein Normalverdiener leisten kann. Zum Glück! Denn es wäre gar nicht auszudenken, wenn jeder der Fahrgäste auf eigene Faust mit dem Pkw in die Stadt fahren würde. Dann würden Schanghais Straßen endgültig aus allen Nähten platzen.

Mit dem Aufschwung der Miet-Mobilität einher ging der Niedergang des Drahtesels. In der Metropole taugt das Fahrrad allenfalls als Nutzfahrzeug. Benutzt wird es vorwiegend von Leuten, die sich kein anderes Vehikel leisten können: Lumpensammler, Schrotthänder, Parkplatzanweiser, Grünpflanzen-Begießer, Aushilfsköche auf dem Weg zum Einkauf, fliegende Händler, Unglaublich, was so ein zum Nutztier [foto id=“356039″ size=“small“ position=“left“]umgebauter Drahtesel alles schleppen kann: Altpapier, mannshohe Düngemittel-Fässer, Schaufensterpuppen. Vor allem aber: Waren aller Art.

Einer dieser Menschen, der Fahrrad fährt zum Broterwerb, ist Xian Li. Er macht aus der Verkehrsnot eine Tugend und setzt auf den Drahtesel. Vorteil: Seine Auslagefläche hat Selfmade-Geschäftsmann Li ist immer am Mann beziehungsweise Rad. Dran geschweißt an seinen Drahtesel, der dadurch zum Dreirad wird. Ein muskelbetriebener Tante-Emma-Laden, oder besser, ein Warenhaus auf Rädern, auf dessen Angebot eine Kuhglocke am Lenker aufmerksam macht. Wie die Geschäfte laufen? Nun ja. Li tut, was er kann, strampelt sich ab für eine Handvoll Yuan, das „Volksgeld“, wie die staatliche chinesische Währung nach der [foto id=“356040″ size=“small“ position=“right“]offiziellen Sprachregelung heißt.

Mit seinem Dreirad Marke Eigenbau besucht Li die Menschen, für die die im Stadtzentrum wie Muschelpilze aus dem Boden schießenden schicken Einkaufszentren unerschwinglich sind. In den Hinterhöfen und Seitenstraßen versorgt er die Menschen mit Dingen des täglichen Bedarfs – oder dem, was man in China darunter versteht: Strohhüte, gefälschte Barbie-Puppen, Plastikblumen, Aufziehautos, glupschäugige Plüschtiere von betörender Hässlichkeit. Bei Xian Li, dem fliegenden Fahrradhändler gibt es fast nichts, was es nicht gibt. Bleibt ihm zu wünschen, dass er immer fest im Sattel sitzt und nicht eines Tages unter die Räder kommt. Wenn doch, dann wird es sehr wahrscheinlich ein VW-Taxi gewesen sein.

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