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Er hat die automobile Mode des 20. Jahrhunderts revolutioniert wie kein anderer Designer. Giuseppe Bertone fand radikale Formen für Massenmodelle und machte den kantigen Keil zum Urmaß für extreme Supersportwagen. Racer wie Alfa Carabo, Lamborghini Countach oder Lancia Stratos wurden Stilikonen der Designhistorie. Allein Ferrari konnte die Carrozzeria Bertone nicht als Kunden gewinnen. Maranello blieb fest in der Hand von Pininfarina, Bertones härtestem Konkurrenten. Allerdings hat Giuseppe Bertone kein einziges seiner Kunstwerke wirklich selbst entworfen.
Stilgeschichte schrieb „Nuccio“, wie ihn schon sein Vater liebevoll nannte, stets mit fremden Federn, die jedoch immer von ihm geformt wurden. Ob Franco Scaglione, Giorgetto Giugiaro oder Marcello Gandini, viele der bedeutendsten Designgrößen des 20. Jahrhunderts wurden von Bertone entdeckt und engagiert. Mit diesen großen Namen gelang es dem Unternehmer und erfolgreichen Netzwerker Bertone seine Turiner Carrozzeria sicher durch stürmische Zeiten zu steuern. Die größte Krise musste der italienische Karosseriebauer allerdings erst nach Bertones Tod am Vorabend des Genfer Salons 1997 überstehen. Wie bei fast allen Karossiers kam im neuen Jahrtausend auch bei Bertone die Auftragsfertigung für große Konzerne (zuletzt für Opel) zum Erliegen. Ein wirtschaftlicher Zusammenbruch, den das Familienunternehmen unter der Führung von Nuccio Bertones Witwe Ermelinda überstand. Zurück zu den Ursprüngen eines Ateliers für Industriedesign und die automobile Haute Couture lautete Ermelindas Vorgabe, alles auf Anfang wie vor 100 Jahren.
Damals, im November 1912 gründete Giovanni Bertone eine Stellmacherei und Reparaturwerkstatt für Kutschen in Turin, dem Zentrum der aufblühenden Automobilindustrie. Mit Einzelanfertigungen und der Erfüllung von Sonderwünschen für wohlhabende Kunden machte sich Bertone schnell einen Namen. 1920 bezog Bertone neue Werkstätten in der Via Monginevro, wo er seine Carrozzeria als eines der ersten Designateliers der aufstrebenden Automobilindustrie etablierte und die kastenförmigen Karosserien von ihrer Verwandtschaft zum Kutschbau befreite.
Nachdem 1933 der 19-jährige Nuccio Bertone eine leitende Position im väterlichen Unternehmen übernommen hatte, begann in einem neuen Werk die Serienproduktion von Karosserien, vor allem für sportliche Fiat und Lancia. Ein einträgliches Geschäft, das allerdings mit dem Aufkommen der selbsttragenden Karosserien endete. Im Zweiten Weltkrieg produzierte Bertone Militärfahrzeuge und Krankenwagen, danach stürzte das Unternehmen wie fast alle Karosseriebauer in eine existenzielle Krise. In dieser Situation zeigte sich zum ersten Mal das Talent des Nuccio Bertone, der zu einem Netzwerker mit Kontakten zu allen wichtigen Automobilherstellern und aufstrebenden Couturiers geworden war. Beste Basis für einen Start in de Wirtschaftswunderjahre mit aufregend gezeichneten und für viele erschwinglichen Sportwagen. Anders als sein Vater wollte Bertone nicht nur ein Karosseriekünstler für wenige Wohlhabende sein, sondern populäre Autos in größerer Stückzahl bauen.
Den dafür notwendigen Designer fand er in Franco Scaglione, der zuvor für Pininfarina gearbeitet hatte und wie Nuccio Bertone ein leidenschaftlicher Aerodynamiker war. Den ersten größeren Kundenauftrag erhielt Bertone 1952 vom amerikanischen Sportwagenhändler S.H. Arnolt, der britische Bristol und MG in Italien aerodynamisch verpacken lassen wollte. Keine zwei Jahre später stieg Bertone zu den großen seiner Zunft auf. Franco Scaglione hatte für Alfa Romeo aus der viertürigen Giulietta ein betörend schönes Coupé geschneidert, das bei Bertone in einer eigens gebauten Fabrik vom Band lief. Aus ursprünglich avisierten 1.000 Giulietta Sprint wurden 40.000 Einheiten und die Grundlage für eine dauerhafte Zusammenarbeit zwischen Alfa und Bertone. Über Nacht war Bertone ein Großserienhersteller geworden, der nun Neuheiten wie am Fließband produzierte. Meist waren es stilbildende Pretiosen wie die stromlinienförmigen Abarth und Alfa Romeo BAT-Coupés oder Einzelstücke für Bentley, Jaguar oder Maserati, aber auch immer mehr Volumenfahrzeuge wie Alfa Romeo Giulietta SS (ab 1959), NSU Sport Prinz (ab 1957), Simca 1000 Coupé (ab 1961) oder BMW 3200 CS (ab 1962). Um 1960 wollte kaum noch eine namhafte Sportwagenmarke auf Entwürfe von Bertone verzichten.
Es war die Zeit des beginnenden Jet- und Weltraumzeitalters und die Ära der Supersportwagen für schnelle Autobahnen und Autodromi. Franco Sacglione hatte Bertone 1959 verlassen und wurde durch Giorgetto Giugiaro ersetzt, der mit den Studien Chevrolet Corvair Testudo und Ferrari 250 GT gleich zwei Meisterstücke ablieferte. Jedenfalls nutzte Nuccio Bertone beide Sportler als Privatwagen. Ob Aston Martin, Gordon Keeble, Iso Rivolta oder Lamborghini, die Liste der Vmax-Marken im Bertone-Design wurde nun immer länger. Und in einem neuen Werk in Grugliasco baute Bertone schöne Coupés und Cabrios in Großserie, darunter die legendären Alfa Romeo Giulia GT (ab 1963) und Fiat 850 Spider (ab 1965).
Nach nur sechs Jahren verließ Designdirektor Giugiaro die Carrozzeria Bertone bereits wieder, um erst die Leitung von Ghia zu übernehmen und 1968 sein eigenes Unternehmen Italdesign zu gründen, mit dem er Meilensteine wie den VW Golf und Fiat Panda kreierte. Wild und wagemutig wie die bevorstehenden Studentenunruhen und die damit einhergehenden gesellschaftlichen Veränderungen waren die Entwürfe von Marcello Gandini, der 1965 neuer Designdirektor bei Bertone wurde.
Gandini machte den Keil zum Kult und Lamborghini zum härtesten Rivalen von Ferrari. Zunächst mit dem Miura als erstem Mittelmotor-V12-Racer (ab 1966), dann mit den viersitzigen V12-Ikonen Marzal (1967) und Espada (1968) und schließlich mit dem Jahrhundert-Donnerkeil Countach (1971). Sogar den Lamborghini Diablo von 1990 brachte Gandini noch in Form, jetzt schon als Freelancer mit eigenem Studio für Bertone. Auch das ultraflache, in weniger als einem Meter Höhe über der Fahrbahn kauernde Konzept Alfa Carabo mit dem weltweit ersten Türöffnungsmechanismus in Scherenschnittform schuf Gandini 1968. Zwei Jahre später startete der messerscharfe Stratos Zero als Vorbote des dreifachen Rallye-Weltmeisters Lancia Stratos, der 1971 Weltpremiere feierte. In ganz große Serie ging die Keilschrift dann mit dem Fiat X1/9 von 1972, der sich zu einem Longseller entwickelte, den Bertone ebenso wie das Fiat Ritmo Cabrio bis 1988 sogar unter eigener Marke vertrieb. Gandini war aber nicht nur bei Sportwagen einer der Größten. Auch Kleinwagen wie Audi 50 (1974), VW Polo (1975) oder Renault 5 (1984) und der Citroen-Bestseller BX (1982) tragen seine Handschrift.
Für die Auslastung der Produktionskapazitäten bei Bertone sorgten gegen Ende des 20. Jahrhunderts neue Kooperationen mit Volvo (Coupés 262 und 780) und Opel (Kadett E Cabrio sowie Astra Cabrio und Coupé). Spätestens Mitte der 1990er Jahre spürte Nuccio Bertone allerdings bereits, dass sich die Ära der unabhängigen Karossiers ihrem Ende näherte. Die großen Automobilkonzerne bauten Coupés und Cabriolets immer öfter in eigenen Werken und eine Carrozzeria konnte nur überleben als Ideenfabrik und Designstudio. Eine Transformation, die Bertones Unternehmen im Unterschied zu vielen Konkurrenten tatsächlich gelingen sollte. Nuccio musste dies aber nicht mehr erleben. Die Neugründung des Atelier erfolgte durch seine Witwe Ermelinda, die ihren verstorbenen Gatten jetzt zum 100. Geburtstag so ehrte, wie er es sich gewünscht hätte. Durch einen keilförmigen Prototypen, verwegener als alle anderen Studien dieses Frühjahrs.
Wichtige Studien, Prototypen und Serienmodelle: | |
1921 – SPA 23 S
1928 – Ansaldo 6BS 1932 – Lancia Artena 1943 – Fiat 2800 Cabriolet 1948 – Fiat Stanguellini 1950 – Fiat 1900 Western Arrow 1950 – Ferrari Cabriolet 1952 – Borgward Prototipo 1952 – MG TD Cabriolet 1952 – Abarth Coupé 1953 – Dodge Zeder 1953 – Aston Martin DB2 1953 – Fiat 8V 1953 – Bentley Bertone 1953 – Alfa Romeo BAT 5 1954 – Alfa Romeo BAT 7 1954 – Alfa Romeo Giulietta Sprint 1955 – Alfa Romeo BAT 9 1956 – Abarth 750 Record 1957 – Jaguar XK 150 1957 – NSU Sport Prinz 1958 – Ford Zodiac 1959 – Alfa Romeo Giulietta SS 1959 – Maserati 3500 1959 – Fiat Osca 1500 1960 – Ferrari 3000 1960 – Gordon Keeble Prototipo 1961 – Maserati 5000 Coupé 1961 – Aston Martin DB4/GT 1962 – Iso Grifo Bizzarrini 1962 – Alfa Romeo Coupé High Speed 1962 – Ferrari 250 GT 1962 – Simca 1000 Coupé 1962 – BMW 3200 CS 1963 – Chevrolet Corvair Testudo 1963 – Alfa Romeo Giulia GT 1963 – NSU Wankel Spider 1964 – Alfa Romeo Canguro 1964 – Iso Grifo Spider 1965 – Ford Mustang 1965 – Fiat 850 Spider 1966 – Lamborghini Miura 1966 – Jaguar FT 1966 – Porsche 911 Roadster 1967 – Simca 1200 S Coupé 1967 – Jaguar Pirana 1967 – Alfa Romeo Montreal 1967 – Lamborghini Marzal 1967 – Fiat 125 Executive 1967 – Panther 1967 – Fiat Dino Coupé 1968 – Alfa Romeo Carabo 1968 – Lamborghini Miura Spider 1968 – Lamborghini Espada 1969 – BMW 2800 SPICUP 1969 – Fiat 128 Coupé 1969 – Autobianchi Runabout 1970 – Lamborghini Jarama 1970 – Alfa Romeo Montreal (Serienversion) 1970 – BMW 2200 TI Garmisch 1970 – Chrysler France Shake 1970 – Stratos HF0 1971 – Lamborghini Countach 1972 – Fiat X 1/9 1972 – Suzuki GO 1972 – Maserati Khamsin 1972 – Citroen Camargue 1973 – NSU Trapeze 1973 – Lancia Stratos 1974 – Fiat 127 Village 1974 – Maserati Quattroporte 1974 – Lamborghini Bravo 1974 – Audi 50 1975 – VW Polo 1975 – Visitors Bus 1975 – Fiat X 1/9 Dallara 1976 – Alfa Romeo Navajo 1976 – Ferrari Rainbow 1977 – Jaguar Ascot 1977 – Volvo 262 C 1978 – Lancia Sibilo 1979 – Volvo Tundra 1980 – Innocenti Mille 1980 – Lamborghini Athon 1981 – Mazda MX-81 1981 – Fiat Ritmo Cabriolet 1982 – Citroen BX 1983 – Alfa Romeo Delfino 1984 – Chevrolet Ramarro 1985 – Volvo 780 1986 – Citroen Zabrus 1987 – Opel Kadett E Cabrio 1988 – Citroen XM 1988 – Lamborghini Genesis 1990 – Chevrolet Nivola 1991 – Emotion 1992 – Blitz 1992 – Fiat Cinquecento Rush 1993 – Opel Astra F Cabrio 1993 – Fiat Punto Cabrio 1994 – Porsche Karisma 1994 – Fiat Punto Racer 1994 – Z.E.R. 1995 – Citroen Berlingo 1995 – Lancia Kayak 1996 – Opel Slalom 1996 – Fiat Enduro 1997 – Alfa Romeo Sportut 1998 – BMW Pickster 1999 – Alfa Romeo Bella 1999 – Opel Astra G Coupé 2000 – Slim 2000 – Klapptop 2001 – Filo 2001 – Opel Astra G Cabrio 2002 – Novanta 2003 – Birusa 2003 – Alfa Romeo GT 2003 – Fiat Panda 2004 – Aston Martin Jet 2005 – Villa 2010 – Alfa Romeo Pandion 2011 – Jaguar B99 2012 – Nuccio |
Chronik: |
1912: Im Alter von 28 Jahren gründet Giovanni Bertone im November in Turin ein Unternehmen für die Reparatur und Konstruktion von Kutschen. Neben Giovanni Bertone selbst gehören drei Mitarbeiter zu der Firma
1914: Der zweite Sohn von Giovanni Bertone, Giuseppe, wird am 4. Juli geboren. Von Geburt an erhält dieser den Spitznamen „Nuccio“. Während des Ersten Weltkriegs ist Bertone gezwungen, seine Werkstatt zu schließen 1920: Neugründung des Unternehmens in der Turiner Via Monginevro mit anderem Schwerpunkt: Automobile. 1933: Giuseppe „Nuccio“ Bertone steigt mit 19 Jahren in das väterliche Unternehmen ein 1939: Während des Zweiten Weltkriegs ließ die Nachfrage nach Autos und vor allem nach exklusiven Kleinserienfahrzeugen der Karossiers drastisch nach. Trotzdem lief die Produktion im Werk Corso Peschiera (Lancia Aprilia, Fiat 2800 Cabriolet) weiter. Bis zum Kriegsende konzentrierte man sich bei Bertone aber vornehmlich auf den Bau von Militärfahrzeugen 1945: Nach dem Zweiten Weltkrieg übernimmt Nuccio Bertone das Familienunternehmen und stellt mehrere namhafte Designer ein. Sein erster Chefdesigner wurde Franco Scaglione, auf den später Giorgetto Giugiaro und Marcello Gandini folgten 1952: Erste Großaufträge der Nachkriegszeit von MG und Bristol 1954: Präsentation der Alfa Romeo Giulietta Sprint auf dem Turiner Salon. Aus ursprünglich 1.000 geplanten Einheiten werden bis zum Jahr 1965 knapp 40.000 des bei Bertone gebauten Coupés 1957: Bei Bertone wird nun auch die Karosserie für den NSU Sport Prinz gezeichnet und gefertigt. Die Gesamtproduktion übersteigt die Kapazitäten des Werks Corso Peschiera 1959: Ein Werk in Grugliasco (Turin) mit 550 Arbeitsplätzen wird in Betrieb genommen 1960: In diesem Jahr werden bei Bertone erstmals mehr als 31.000 Karosserien gebaut 1965: Mit der Einführung des Fiat 850 Spider entscheidet sich „Nuccio“ Bertone für die Erhöhung der Produktionskapazitäten auf 120 Einheiten pro Tag. Bis 1972 wurden rund 140.000 Einheiten des 850 Spider gefertigt, die meisten für den US-Markt 1970: Mittlerweile beschäftigt Bertone 1.500 Mitarbeiter 1972: Im Alter von 88 Jahren stirbt der Unternehmensgründer Giovanni Bertone. Im gleichen Jahr läuft die Produktion des Fiat X 1/9 an, von dem insgesamt rund 160.000 Einheiten gefertigt werden 1981: Anfang der 1980er-Jahre werden das Ritmo Cabrio und der X 1/9 bei Bertone produziert und sogar unter eigener Marke verkauft 1997: Am 26. Februar, dem Vorabend des Genfer Salons, stirbt Giuseppe „Nuccio“ Bertone. Bertones Witwe Ermelinda übernimmt die Unternehmensführung 2009: Das Werk in Grugliasco wird an Fiat verkauft 2012: Das Unternehmen Bertone feiert den 100. Gründungstag |
geschrieben von auto.de/sp-x veröffentlicht am 02.05.2012 aktualisiert am 31.10.2020
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