Volvo

Tradition: 25 Jahre Volvo 400er Serie – Schneewittchen statt Schlaftabletten

„Lieben Sie Überraschungen?“, fragte Volvo die verblüfften Kompaktklassekäufer in einer Anzeigenkampagne zur Vorstellung der neuen 400er Baureihe. Tatsächlich hatte vor 25 Jahren kaum jemand damit gerechnet, dass ausgerechnet die scheinbar stockkonservativen Schweden ihre Marke neu ausrichten.

Durch ein sportliches Fahrwerkslayout und für Volvo untypischen Vorderradantrieb sollten die Modelle 440, 460 und 480 Fahrfreude bringen – ein „neues Volvo-Gefühl“ vermitteln durch ein Design, das „auffallend“ ist und „Fahrspaß ausstrahlt“, so wie es bis dahin nur dem legendären sogenannten Schneewittchensarg 1800 ES von 1971 gelungen war. Kurz gesagt: Die Volvo 400er Serie sollte fast alles neu machen und so einen ersten Frontalangriff gegen die Fahrdynamiker von BMW und Audi führen und nebenbei gegen Golf & Co punkten.

Davon kündete bereits die Vorhut der neuen Fronttriebler, der 480 ES. Mit seiner großen rahmenlosen Glasklappe am Heck wirkte er auf den ersten Blick wie eine Neuauflage des Shooting-Brake-Klassikers 1800 ES. Revolutionär statt retro war der 480 jedoch durch die Keilform mit Klappscheinwerfern und eine Rekordzahl an technischen Innovationen. Mit diesen führten wenig später auch das Fließheckmodell 440 und die Stufenhecklimousine 460 Volvo in die Moderne. 703.000 Einheiten rollten in zwölf Jahren von den Bändern im niederländischen Born, deutlich weniger als vom Vorgänger 340/360. Genau dessen Image als rollende Schlaftablette mit Riemenautomatik aus dem DAF-Erbe mussten die neuen Jung-Dynamiker aber auch erst einmal abschütteln. Nachdem ihnen dies gelungen war, machten sie Volvo fit für die Zukunft mit Frontantrieb in allen Klassen.

Fast war es eine Herkules-Aufgabe, die auf den kantigen Schultern der 4,26 bis 4,40 Meter langen Nordmänner ruhte. Schließlich sollte die neue kleine 400er-Klasse Volvo attraktiv machen für junge, zahlungskräftige Kunden, die sich für BMW, Audi und die immer zahlreicheren kompakten GTIs europäischer und japanischer Provenienz begeisterte. Dazu hatte Volvo schon Ende der 1970er Jahre einen Designwettbewerb ausgeschrieben, dessen Gewinner das bisher pragmatische Markenimage von „Sicherheit aus Schwedenstahl“ und Unverwüstlichkeit um die Facette Sportlichkeit ergänzen sollte.

Mit diesem Jungdynamiker wollten die Wikinger die früheren Eroberungszüge fortsetzen, die von pfeilscharfen Gallionsfiguren wie zuletzt dem „Schneewittchensarg“ 1800 ES angeführt wurden und den Schweden auch auf dem wichtigsten Volvo-Markt, den USA, stolze Verkaufszahlen bescherten. Nebenbei sollte das neue Einstiegsmodell das dröge Image der holländischen Volvo 340/360 vergessen machen. Als Türöffner in die sportive Mittelklasse fungierte deshalb zunächst ein exklusives Kombicoupé unter dem Code 480. Der Durchbruch sollte dann mit den mehrheitstauglichen Limousinen 440 und 460 gelingen.

Acht lange Jahre dauerte es, bis aus dem Sieger des Designwettbewerbs von 1978 der serienreife Volvo 480 hervorging. Das zweitürige Sportcoupé mit gepfeilter Silhouette, gläserner Heckklappe und Klappscheinwerfern ging zurück auf einen Entwurf von John de Fries aus dem niederländischen Designstudio Helmond. De Fries setzte sich damit durch gegen die Visionen der italienischen Starcouturiers Bertone und Coggiola, aber auch gegen einen Vorschlag des damaligen Volvo-Designchefs Jan Wilsgaard. Der spätere Chefdesigner Peter Horbury wiederum zeichnete verantwortlich für das Interieur des spektakulären Sport-Kombis, der mit dem damals beachtlichen cW-Wert von 0,34 glänzte.

Zugleich ging mit dem 480 die weltweit erste Motorhaube aus stahlhartem Fiberglas in Bienenwabenstruktur in Serie, der erste unter der Stoßstange platzierte Kühlergrill, nicht zu vergessen ein futuristisches Cockpitdesign mit Druckschaltern aus dem F-16-Kampfjet. Hinzu kamen ein extraordinärer Bordcomputer mit elektronischer Kommandozentrale, dem sogenannten Central Electronic Modul (CEM) zur Steuerung von 27 unterschiedlichen Funktionen. Allerdings sollte es im Alltagseinsatz gerade die Elektronik sein, die immer wieder mit eigentlich Volvo-untypischer Unzuverlässigkeit auffiel.

Ganz anders die Versprechungen, die Volvo bei den Pressepremieren der Typen 480 (1985), 440 (1987) und 460 (1989) machte. Nur zehn Servicestunden seien für die ersten 100.000 Kilometer notwendig. Wenigstens verzichteten die optisch weniger extravaganten fünftürigen 440 und viertürigen 460 – gezeichnet von Peter van Kuilenburg im Stil des kommenden 850-Reihe – auf die kapriziösen Launen der dynamischen Diva 480. Dabei teilte sich das Trio doch sogar die multinationalen Motoren. Da weder die hauseigenen, großen Vierzylinder noch ein ursprünglich vorgesehener Dieselmotor unter die Hauben der Kompakten passten, griff Volvo wie schon beim 340/360 auf die 1,7-Liter-Benziner des Kooperationspartners Renault zurück. Mit Leistungswerten von 70 kW/95 PS bis 78 kW/106 PS konnten es die leichtgewichtigen 400er zwar bereits mit dem Temperament von vergleichbaren BMW 3ern oder Golf GTI aufnehmen, deutlich flotter waren jedoch die Turboversionen mit 88 kW/120 PS und auffälligen Alurädern. Allein diesen Toptypen nahmen die Kunden ihre sportiven Ambitionen auch wirklich ab – und dabei maximale Verbrauchswerte von bis zu 15 Liter auf 100 Kilometer laut zeitgenössischer Testberichte in Kauf.

Ansonsten attestierten Motorpresse und technische Prüforganisationen den Volvo 440 und 460 und ganz besonders dem 1994 nachgelegten 1,9-Liter-Turbodiesel gepflegte Langeweile zu günstigen Kosten. Ein schönes Kompliment in einer Zeit, als nicht wenige Europäer der unteren Mittelklasse in Pannen- und Mängelstatistiken unrühmlich auffielen. Während der Angriff in Amerika für den 480 trotz aufregenden Cabrio-Concepts kurzfristig storniert wurde, entschloss sich Volvo nach einem 1993 erfolgten Facelift, seine ersten Fronttriebler wenigstens in Australien antreten zu lassen. Erfolgreich, die traditionell leistungshungrigen „Aussies“ akzeptierten die niederländischen Schweden mit französischen Antrieben als schnelle und stilsichere Alternative zu den dort dominierenden Japanern, die im Drei- oder Vierjahresturnus ihr Kleid wechselten.

Solche Sorgen kannten die europäischen Käufer nicht. Zwölf Jahre hielt Volvo an seiner kleinen Klasse fest, dann erst übernahmen die neuen, auf rund 4,50 Meter Länge gewachsenen Typen S40 und V40 den Stab. Mit ihnen war Volvo endlich angekommen in der anspruchsvollen Mittelklasse und im Club der Millionäre. Über eine Million Einheiten wurden von den neuen Herausforderern etablierter Premiumkonkurrenten verkauft. Die Basis dafür hatten die Vorgänger 440, 460 und 480 gelegt. Was sie als Youngtimer leider dennoch nicht begehrenswert macht, wie die niedrigen Notierungen verraten. Allein der 480 hat bereits Kultstatus erlangt als moderne Interpretation des legendären „Schneewittchensargs.“

Chronik

1978: Unter dem Projektnamen E12 beginnt die Entwicklung der Volvo 400er Serie. Der 480 ist Vorreiter für die neue Modellreihe und erster Volvo mit Frontantrieb. Produktion in den Niederlanden
1979: Volvo und Renault schließen einen Vertrag über industrielle Zusammenarbeit. Ein Ergebnis ist die Lieferung von Vierzylinder-Motoren für die Volvo Typen 440, 460 und 480
1981: Das endgültige Design für den Volvo 480 wird am 9. Juni verabschiedet. Gezeichnet wurde das keilförmige Kombicoupé von John de Vries aus dem Volvo-Designstudio Helmond in den Niederlanden
1985: Pressevorstellung des 480 ES
1986: Weltpremiere des 480 ES auf dem Genfer Salon. Markteinführung in Schweden und weiteren europäischen Ländern. Zulassungen: 11.243 Einheiten
1987: Offizielle Markteinführung des 480 in Deutschland
1988: Zwei Prototypen des 480 mit US-Spezifikation werden gebaut. Premiere für den 480 Turbo mit 1,7-Liter-Hubraum und 90 kW/122 PS Leistung. Im Juni wird die fünftürige Limousine 440 vorgestellt
1989: Pressevorstellung der Stufenhecklimousine Volvo 460. 440 und 460 sollen die Typen 340 und 360 ersetzen
1990: Weltpremiere feiert der 460 auf dem Brüsseler Salon, anschließend Markteinführung.  In Genf debütiert das 480 Convertible als seriennahe Studie. Zu einer Serienfertigung kommt es aber nicht, da der Zulieferer für das Cabriodach Insolvenz anmeldet. Zum neuen Modelljahr sind alle Volvo der 400er Serie serienmäßig mit geregeltem Katalysator ausgestattet
1993: optische und technische Modellpflege
1994: Limousinen auch mit 66 kW/90 PS leistendem 1,9-Liter-Turbodiesel verfügbar
1995: Vorstellung von S40 und V40, den designierten Nachfolgemodellen.  Produktionseinstellung Volvo 480
1996: Produktionsauslauf für den 460
1997: Der 440 wird aus den Preislisten gestrichen

Motoren Volvo 440/460

1,7-Liter-Vierzylinder-Benziner (58 kW/79 PS bzw. 60 kW/82 PS bzw. 64 kW/87 PS bzw. 66 kW/90 PS bzw. 70 kW/95 PS bzw. 75 kW/102 PS bzw. 78 kW/106 PS)
1,7-Liter-Vierzylinder-Turbobenziner (88 kW/120 PS)
2,0-Liter-Vierzylinder-Benziner (81 kW/110 PS)
1,9-Liter-Vierzylinder-Turbodiesel (66 kW/90 PS)
Motoren Volvo 480:
1,7-Liter-Vierzylinder-Benziner (70 kW/95 PS bzw. 75 kW/102 PS bzw. 78 kW/106 PS bzw. 80 kW/109 PS);
1,7-Liter-Vierzylinder-Turbobenziner (88 kW/120 PS bzw. 90 kW/122 PS)
2,0-Liter-Vierzylinder-Benziner (81 kW/110 PS)

Produktionszahlen

Volvo 440/460/480 insgesamt  703.547 Einheiten,
davon Volvo 440 (1988-1996) 384.682 Einheiten,
Volvo 460 (1989-1996) 238.401 Einheiten,
Volvo 480 (1986-1995) 80.464 Einheiten.

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