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Allwetter- oder Winterreifen?
Seit 80 Jahren gibt es Winterreifen. Bei Schnee und Eis auf den Straßen sind sie selbstverständlich – und bei uns wie in vielen Ländern bei Glätte sogar gesetzliche Vorschrift. Unsere Großväter hatten es noch nicht so gut: Die ersten Reifen speziell für winterliche Verhältnisse erschienen 1936. Populär bei uns wurden sie ab den 50er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts. Wir blicken zurück.
Auf dem Bild müht sich ein verzweifelter Mensch, seine Schneeketten zu entwirren. Dahinter ein Auto, das offenbar mühelos davon rollt – mit deutlichen Reifenspuren im Schnee: Winterreifenreklame anno 1936. Damals stellte Semperit sein erstes Winterprofil vor – nicht von ungefähr ein Hersteller in Österreich. Berge und Schnee spielen in der Alpenrepublik eine überragende Rolle. Die (noch wenigen) Autofahrer damals hatten entsprechend zu kämpfen: Es gab viel mehr Schnee als heute, maschinelle Räumung heutiger Art existierte allenfalls in Ansätzen, Taumittel-Streuer (Salz) gab es schon gar nicht.
Schnee, das hieß für die allermeisten Fahrer damals, das Auto stehen zu lassen – umso mehr, als zu jener Zeit auch Scheinwerfer, Scheibenwischer und vor allem Fahrzeugheizung noch in den Kinderschuhen steckten. In Skandinavien übrigens standen die (gleichfalls wenigen) Autofahrer vor demselben Problem. Für sie brachte der finnische Hersteller Suomen Gummiteh das Osaheytiö, der Vorgänger der heutigen Reifenmarke Nokian, ebenfalls 1936 den „Hakkapeliitta 75“ heraus. Sogar schon zwei Jahre früher präsentierte man den „Kelirengas“ (übersetzt: „Winterreifen“) für Lastwagen.
Der damalige „Goliath“ von Semperit hatte ein grobes, in der Mitte S-förmig gewundenes Profil mit ausgeprägten seitlichen Greifklauen. Es sollte vor allem in tiefem Schnee zupacken. Vorbild war das Militär mit seinen Reifen für hartes Gelände. Sie zeichneten sich aus durch tief eingeschnittene Profile mit ausgeprägten seitlichen Greifklauen. Sie sollten den Schnee zu einer Art Zahnschiene zusammenpressen, in die sie dann wie ein Zahnrad eingreifen konnten.
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Mit den 1950er-Jahren kam das Wirtschaftswunder und keimte der erste Winter-Tourismus mit dem Auto – ab 1952 mit den ersten „M+S“-Reifen für „Matsch und Schnee“. Continental war ganz früh dabei: Der „M+S 14“ erschien 1952. Sein Profil wieder mit ausgeprägten seitlichen Greifklauen hätte auch zu einem Trecker gepasst. Immerhin: Der VW Käfer entwickelte sich mit solchen Reifen auf den Hinterrädern (und mit seinem Heckmotor, der diese Antriebsräder kräftig belastete) alsbald zum Schneekönig. Mit senkrecht angeschnallten, damals reichlich zwei Meter langen (Holz-)Latten am Heck brachte er unsere (Groß-)Väter scharenweise in die emporkommenden Skigebiete.
1959 hatte Pirelli eine Idee, die in Zukunft vielleicht wieder Bedeutung bekommen könnte: Beim „BS 3“ ließ sich die Lauffläche auswechseln – das Sommerprofil abnehmen und ein Wintermantel überziehen. Die 60er-Jahre brachten die Spikes, die Hartmetallkrallen. Ihre Wirkung auf Eis ist noch immer unerreicht. Sie kratzten aber dermaßen rasch Rillen in den Straßenbelag, dass sie ab 1975 verboten wurden. Nur für Fahrräder sind sie noch erlaubt – und (mit Einschränkungen) in einigen nordischen Ländern.
Die Industrie mühte sich, brauchbare Haftung auf Eis auch ohne Nägel zu erreichen. Ihr kam zugute, dass sich in den 70ern der Radialreifen durchsetzte. Unter dem Profilgummi befindet sich bei ihm ein viel steiferer Unterbau, der Reifen verformt sich weniger beim Abrollen. Das Profil mit seinen Kanten kann so viel besser greifen, ganz besonders, seitdem zahlreiche feine Schnitte („Lamellen“) für eine viel größere Zahl dieser feinen Kanten sorgen.
Auch die Reifen-Chemiker waren nicht untätig: Statt wie früher vor allem Ruß als Füllstoff zu verwenden, greifen sie heute zu Kieselsäure („Silica“). Ruß ist nur noch in verschwindenden Mengen enthalten und hauptsächlich, um den Reifen weiterhin schwarz aussehen zu lassen. Die Älteren unter uns erinnern sich noch an den „blauen“ M+S-Reifen von Metzeler, der den Umschwung im Reifengummi auch optisch zur Geltung bringen sollte. Leider ohne Erfolg: Die altbewährte Münchener Marke fertigt heute nur noch Motorradreifen (und dazu unter anderem Schaumstoff-Matratzen).
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Die neuen Silica-Mischungen wurden später ein umso größerer Erfolg. Inzwischen haben sie sich international durchgesetzt. Heute enthält das Laufstreifengummi oft so genannte Nasstraktionsharze. Sie entwickeln eine Art Klebeeffekt auf Nässe und erhöhen den Grip auf feuchter Fahrbahn. Neue Bestandteile im Gummi, oft pflanzliche Öle (z. B. Rapsöl oder „Löwenzahn“ bei Continental) sorgen dafür, dass das Profilgummi bei Kälte weich und elastisch bleibt – und mithin griffig.
Inzwischen ändern sich die Anforderungen an M+S-Reifen erneut. Heutige Winter in Mitteleuropa sind vor allem nass, Schnee hat zumindest im Flachland mehr und mehr Seltenheitswert. Moderner Winterdienst streut selbst auf kleinen Straßen Salz. Es lässt Glatteis tauen, bevor es Unheil stiften kann. Dafür geben Deutschlands Autofahrer auch bei Regen gern Gas. Heutige Winterreifen müssen Tempo vertragen, sie sollen auch dann resistent sein gegen Aquaplaning. Vor allem aber wird Haftung auf Nässe verlangt, auch auf salziger Nässe bei Temperaturen unter Null. Und sie sollen keine Einbuße bedeuten in Lenkpräzision, Rollwiderstand, Geräusch und nicht zuletzt Lebensdauer.
Die Hersteller bringen die zum Teil gegensätzlichen Forderungen erstaunlich gut unter einen Hut. M+S-Profile erinnern nicht einmal von fern an ihre Greifklauen-Vorgänger. Sie sind ähnlich fein geschnitten wie bei Sommerreifen, sie rollen leicht und leise ab und erzielen im Schnee dennoch den notwendigen Zahnschienen-Effekt. Hunderte von Lamellen vervielfachen die Zahl der feinen Greifkanten und sichern so einen Rest von Haftung selbst auf Eis. Raffiniert geschnittene Profilblöcke stützen sich bei Querkräften gegenseitig ab. Der Reifen bleibt in Kurven stabil. In Abrollkomfort und Lenkpräzision unterscheiden sich moderne Winterreifen kaum noch von ihren Sommer-Kollegen. Dies gilt ganz besonders für Breitreifen mit asymmetrischen und in der Laufrichtung gebundenen Profilen, wie sie bevorzugt auf schwere Limousinen und Sportwagen aufgezogen werden.
Wenn moderne M+S-Reifen ihren Sommer-Kollegen in Abrollkomfort, Lenkpräzision und Rollwiderstand nahe kommen – wäre es dann nicht vernünftig, solche Reifen das ganze Jahr über zu verwenden? Ja, sagten sich vor allem die Hersteller in den USA: „All Season“ ist in den nördlichen Bundesstaaten, die zum Teil tiefe Winter kennen, seit langem der Normalfall. Winterreifen europäischer Art fährt der Amerikaner allenfalls ganz im Norden und in den Wintersportgebieten.
Allwetterreifen werden seit Jahren auch bei uns angeboten. Noch vor kurzem galten sie als untauglicher Kompromiss. Inzwischen haben die Reifen-Chemiker auch hier ihre Hausaufgaben gemacht: Die großen Fachzeitschriften sehen „Allwetter“- „Cross climate“-, „Allseason“- oder schlicht Ganzjahresreifen noch immer als Kompromiss. Aber als einen, der für im Flachland bewegte Autos, für wenig gefahrene (Zweit-) Wagen durchaus überlegenswert ist. Auf Höchstleistung im Tiefschnee, auf das letzte Quäntchen Lenkgefühl sind Fahrer dieser Autos nicht angewiesen. Viel mehr zählt für sie, dass sie keinen eigenen (und vor allem mit den neuen Reifendruck-Kontrollsystemen teuren) Rädersatz für Winterreifen brauchen; dass sie sich den Wechsel im Herbst und im Frühjahr sparen können; dass auch der Aufwand für das Aufbewahren der jeweils nicht benötigten Räder wegfällt.
Bald jedes fünfte Auto bei uns rollt inzwischen auf „AllSeasonContact“, „Cross Climate“ oder ähnlich bezeichneten Reifen. Fahrer kleinerer Modelle, so der ADAC schon 2016, könnten sich sogar zur Hälfte vorstellen, zu diesen neuen Reifen zu wechseln. Mehr und mehr bestellen sie für ihre neuen Autos gleich ab Werk, die Aufpreise sind gering. Mit M+S-Kennzeichnung und Schneeflocken-Symbol entsprechen heutige Ganzjahresreifen allen Vorschriften. Für schwere Limousinen und Sportwagen, für alle im höheren Bergland und im Wintersport empfehlen sich freilich noch immer echte M+S-Reifen. Und genügend Profil: Drei Millimeter mindestens sollten es sein. Die Österreicher verlangen vier, um M+S-Reifen als solche anzuerkennen. Sie wissen warum, sie haben mit ihnen schließlich 81 Jahre Erfahrung…
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geschrieben von AMP.net/Sm veröffentlicht am 20.11.2017 aktualisiert am 20.11.2017
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